Rehwild: Wissenschaft vs. Praxis
In vielen Bereichen klaffen Studienergebnisse und gefühlte Realität auseinander. Ist das bei der Rehwildbejagung ebenso der Fall? Wir trafen Experten aus Wissenschaft und Jagdpraxis zum Wissens- und Erfahrungsaustausch. – 2. und letzter Teil.
Im ersten Teil dieser Serie wurde bereits vom Wildbiologen Robin Sandfort, MSc., und Forstwart Fritz Wolf der Waldumbau aufgrund des Klimawandels und der noch ungewissen Entwicklung des Rehwildes angesprochen. Neben vielen weiteren unbekannten Faktoren wissen wir jedoch schon jetzt, dass aufgrund des vermehrten Laubbaumaufkommens ein besseres Äsungsangebot für das Rehwild vorhanden sein wird.
Dieses kann sich, sofern keine anderen zu großen Störfaktoren – wie ein zu hoher, bereits bestehender Konkurrenzdruck – vorhanden sind, positiv auf die Wilddichte auswirken. Ebenso werden die immer milder werdenden Winter Hegemaßnahmen nahezu obsolet machen.
Hege: Ja oder Nein?
Hegemaßnahmen nur um des Krickerls Willen sollten doch schon längst der Vergangenheit angehören, meint man. Mittlerweile hat der moderne Jäger das Bewusstsein, dass man mit Lebensraumoptimierung für das Rehwild bzw. andere Schalenwildarten viel mehr erreichen kann als mit Kraftfutter. Auch darf man durch diese Lebensraumförderung weitere Aspekte nicht unterschätzen.
Wie zum Beispiel die Endochorie, also die Verbreitung von durch die Äsung aufgenommenen Samen. Die Pflanzendiversität wird gefördert, der Verbiss konzentriert sich dadurch eher auf die wieder aufkommende, sich selbst weiterverbreitende Vegetation. So wurde in der Debatte auch die Beweidung von Naturschutzflächen als weiterer Punkt genannt: Weidevieh transportieren und auftreiben, das alles kostet Zeit und Geld. Dass aber auch das Wild mit seiner Äsungsaufnahme und dem „Verbiss“ holziger Pflanzen auf Offenflächen einen wertvollen Beitrag zur Freihaltung dieser Flächen leistet, wird oftmals unterschätzt bzw. schlicht übersehen.
Wer im Winter unbedingt füttern muss, muss sich im Folgejahr auch um den daraus resultierenden Abschuss der überlebenden höheren Population kümmern. Wenn man jedoch bedenkt, dass durch die höhere Überlebensrate ein vermehrter Konkurrenzdruck auf derselben zur Verfügung stehenden Fläche entsteht, darf man sich nicht über ein geringer werdendes Wildbretgewicht in den kommenden Jahren wundern. So hat es viel mehr Sinn, auch im Sinne des Waldumbaus aufgrund des Klimawandels fruktifizierende Baumarten wie (Wild)Äpfel zu pflanzen, die selbst im Winter noch Äsung bieten, und die natürliche Tragfähigkeit eines Habitats nicht durch künstliche Zufütterung auszureizen. Oder man schafft mithilfe durchdachter Raumplanung Flächen, die jeweils Äsung bieten, Freizeitnutzern dienen oder als Wildruhezonen Einstand für das Wild bereithalten. Das bedingt jedoch ein gutes Auskommen mit dem Grundeigentümer.
Gerade bei der Schaffung geeigneter Einstände, zum Beispiel durch das Anlegung von Hecken, profitieren nicht nur das Reh oder Niederwild, wie Fasan und Feldhase, sondern beispielsweise auch Singvögel, die zwar nicht für die Jagd relevant sind – aber was wären wir für Jäger, wenn wir nur jagdbares Wild hegen würden? Darüber hinaus erspart man sich durch den Wegfall der Fütterung das Desinfizieren, da bekanntlicherweise die Fütterung als Ansteckungsquelle für vielerlei Krankheiten gilt.
Die Notwendigkeit einer Winterfütterung für Rehwild sollte daher ehrlich und unter Evaluierung aller im Zusammenhang stehender Faktoren sowie der noch vertretbaren, möglicherweise negativen Effekte wie Winterverbiss eingeschätzt werden.
Setzzeitpunkt vs. Mahd
Aufgrund des Klimawandels und des früheren Aufkommens der Äsung stellte sich die Wissenschaft die Frage, ob diese Faktoren Einfluss auf den Setztermin und die Brunft des Rehwildes haben. Da der Wandel stetig voranschreitet, können noch keine allgemeingültigen Ergebnisse erzielt werden, und teilweise widersprechen sich die bereits erschienenen Studien zum Rehwild. So ist bereits bewiesen, dass die Setzzeit des Rehwildes durch die Tag-Nacht-Länge bestimmt wird und nicht durch die Temperatur. Eine Studie, durch geführt in der Ebene Frankreichs, belegt, dass die Verschiebung des Vegetationsaufkommens bei logischerweise gleich bleibender Tag-Nacht-Länge keinen Einfluss auf den Setztermin hat. Eine andere Studie aus der Schweiz und eine erst kürzlich erschienene Studie aus Deutschland ergaben wiederum, dass die Setzzeit sehr wohl durch den Klimawandel beeinflussbar ist. Fakt ist auf alle Fälle, dass der Klimawandel schneller erfolgt als die Anpassung des Rehes an denselben. Aus der Schweizer Studie aus dem Jahr 2020 ging auch hervor, dass sich der Setzzeitpunkt an den Höhengradient anpasst. So wurden bereits Anfang März gesetzte Kitze gemeldet, wobei es sich bei diesen Kitzen um extreme Ausreißer in der Statistik handelt.
Anpassen an den Klimawandel
Durch die Zeitfeststellung des Setzens ergibt sich mit der Anzahl der gesetzten Kitze eine Glockenkurve, aus der sich der am häufigsten vorkommende Setztermin herauslesen lässt. Vergleicht man diese Glockenkurven über mehrere Jahre hinweg, kann erst Rückschluss auf die veränderte Setzzeit gegeben werden, was die nicht konkrete Antwort auf einen früheren Setztermin erklärt. Sicher ist jedoch, dass die früher gesetzten Kitze der jeweiligen Saison höhere Überlebenschancen haben. Ein früher Setztermin wird an den eigenen Nachwuchs weitergegeben und somit genetisch vererbt. Erst wenn sich diese genetische Variante im Bestand etabliert, kann ein früherer mittlerer Setztermin sichtbar werden.
Auch spielt hier der Hormonstatus der Geiß eine Rolle, denn dieser hat ebenso Einfluss auf den Setztermin. Dieser variiert wiederum im Alter, genauso wie das Geschlechterverhältnis der Kitze mit dem zunehmenden Alter der Geiß variiert. So bekommen Geißen mit ansteigendem Alter etwas mehr Bockkitze.
Gestärkte Populationen
Für einen gesunden Bestand ist zu nächst, wie erwähnt, die Tragfähigkeit des zu betrachtenden Habitats relevant. Darüber hinaus sollte ein ausgewogenes Geschlechtsverhältnis an gestrebt werden – jedoch im lebenden Bestand, nicht beim Abschuss! So sollte logischerweise auch der weibliche Überhang bejagt werden, anstatt nur die Jagd auf den Trophäenbock zu betreiben. Denn wird einmal der übermäßige Konkurrenzdruck entnommen, können sich übrig gebliebene Böcke ohnehin besser entwickeln und stärkere Geweihe bilden.
Schlau oder nicht schlau?
Abhängig vom Blickwinkel erscheint das Rehwild als durchaus gewieft oder als dankbares Opfer. Aus der Sicht des Jägers kann das Reh durchaus als „gerissen“ gesehen werden, mit der Lernfähigkeit zum Heimlichwerden. Doch betrachtet man das Reh aus der Sicht großer Prädatoren, fragt man sich, warum diese das Reh so erfolgreich bejagen können. Während der Fuchs als Opportunist gilt, ist der Luchs wiederum als wahrer Spezialist anzusehen. So bejagt er effektiv weiterhin Rehwild, auch wenn dieses bereits in seinem Jagdrevier in geringer Dichte vorkommt. Ein weiterer spannender Aspekt ist die zukünftige Rolle des Goldschakals. So laufen zurzeit Studien, die unter anderem dessen Einfluss auf das Rehwild einschätzen werden. In Deutschland wurde in einer Studie der Einfluss des Wolfes zwanzig Jahre lang untersucht. Darin zeigt sich, dass das Rehwild neben dem Schwarzwild das am häufigsten gerissene Schalenwild ist. Das Rehwild wird sogar bevorzugt bejagt, da das Schwarzwild wehrhafter ist. So bleibt auch hier abzuwarten, wie groß der Einfluss des Wolfes auf das Rehwild zukünftig sein wird.
Es stellt sich also die berechtigte Frage, inwieweit sich die Großraubtiere etablieren werden und vor allem, wie das Rehwild darauf reagieren wird. Da sich Rehwild mit der Feindeinschätzung schwerer tut, wird es sich vermutlich vermehrt auf Freiflächen aufhalten, was wiederum auf deren Bejagung Einfluss hat.
Die Erfahrung zeigt’s
Wie bereits im ersten Teil erklärt, kann man sich heimliche Rehe „anzüchten“, indem man die „schüchternen“ Individuen im Bestand belässt. Klar, einen ganzen Familienverband, also Kitze samt Geiß, zu erlegen, bedarf einer gewissen Übung und Erfahrung des Jägers. Wenn man es aber schafft, mehrere Stücke in einem Zug zu entnehmen, nimmt man nicht nur sofort dem Bestand, sondern auch sich selbst viel Druck für die Erfüllung des Abschussplans.
Ebenso wäre eine Bejagung von an Menschen gewöhntes Rehwild in Siedlungsnähe mittels Bogenjagd eine zukunftsweisende, in manchen Städten Europas bereits legale und etablierte Möglichkeit, Rehe effektiv zu erlegen.
Das Wesen des Rehes
Jedem langjährigen Rehwildjäger ist bekannt, dass Rehe bestimmte Archetypen im Hinblick auf die Reaktion auf gewisse Einflüsse erkennen lassen. Sprich, Rehe zeigen individuelle Charakterzüge und verhalten sich dementsprechend auch unterschiedlich. So haben dominante Geißen wiederum Einfluss auf das Verhalten anderer Geißen. Letztere leiden durch diesen Hierarchiestress und können dadurch anfälliger gegenüber Krankheiten werden. Auch aus diesem Grund sprechen sich die Experten für die Erlegung schwacher Familienverbände aus.
Genauso kann sich der Jäger mit seiner grundlegenden Einstellung zur Rehwildbejagung auseinandersetzen. Was ist für ihn interessanter: die Erlegung einer uralten Rehgeiß oder die eines starken Bockes? Oder wie prioritär wird Rotwild gewertet? Reflektiert man hier ehrlich seine Einstellung und Ziele, kann mit einer durchdachten, zeitgemäßen Hege begonnen werden.