Ansprechen von Wild: Schau genau!
Wer dieser Tage auf die Jagd geht, muss eigentlich nur Schmalgeißen ansprechen, Schmaltiere von Alttieren unterscheiden und führende Bachen in der Rotte erkennen können. Kein Problem, sollte man meinen ...
Der Tag hat sich schon vor geraumer Zeit der herannahenden Dämmerung ergeben, und ein Blick Richtung Westen lässt erahnen, dass ein weidgerechter Schuss nicht mehr allzu lange möglich sein würde. Die Gedanken schweifen schon Richtung Abendessen und Fernsehprogramm, als ein vorsichtiges Knacksen im Waldsaum die Sinne augenblicklich wieder schärft. Sekunden später betreten die schlaksigen Läufe eines einzelnen Stückes Rotwild das grüngraue Bühnenbild. „Schmaltier, passt!“, lautet der erste Impuls, der die Hand vorsichtig zur Büchse greifen lässt. Gerade, als sich das Absehen an die noch zottelig-graue Decke des Stückes heftet, presst die Begleiterin ein tonloses „Bist du sicher?“ hinter dem Feldstecher hervor. „Das Tier sieht irgendwie älter aus.“ Ist das Haupt nicht tatsächlich etwas lang, der Widerrist nicht ein wenig zu ausgeprägt? Der Daumen, eben noch am Spannschieber, gleitet wieder an den Kolbenhals. Ein Alttier zum Vergleich wäre jetzt Gold wert, doch die Dunkelheit fließt heran und legt sich schützend über die Lichtung.
Theorie & Praxis
Was im Lehrbuch mit kontrastreichen Tageslichtbildern und beispielhaften Abbildungen wie das Einmaleins des Jägerhandwerks wirken mag, stellt sich unter realen Bedingungen doch immer wieder als pulssteigernde Herausforderung dar; denn im Frühling, wenn neu entstehendes Leben und am Abschussplan geforderter Tod einander gegenüberstehen, sind Chance und Risiko unsere jagdlichen Begleiter.
Die kugelrunde Rehgeiß kurz vor dem Setzen oder das hochbeschlagene Tier im Verband des Rudels richtig anzusprechen, stellt auch für Ungeübte kein Problem dar. Doch Mutter Natur ist vielfältig und kann anspruchsvoller sein, als uns manchmal lieb ist. Eine junge Geiß, die zum ersten Mal gesetzt und soeben gesäugt hat, ist unter Umständen bei zehnfacher Vergrößerung weder an einer ausgeprägten, leicht sichtbaren Spinne, noch anhand besonders eingefallener Beckenflanken erkennbar.
Erst der Blick durch ein aufgelegtes Spektiv mit hoher Vergrößerung würde die hervorstehenden Zitzen auf dem entleerten Gesäuge offenbaren, die von Mutterschaft und abgelegtem Kitz zeugen. Ein führendes Jungtier, dessen Nachwuchs sich ein wenig entfernt hat, ist mit dem starken Schmaltier unweit des Kalbes leicht zu verwechseln, und nur geduldiges Beobachten bringt Klarheit. Immer wieder gerät das vermeintliche Einmaleins zur Differenzialgleichung, weshalb kühler Kopf und analytisches Denken gefragt sind.
Schmalrehe ansprechen
Kurzes, „kindlich“ wirkendes Haupt auf dünnem Träger, dazu verhältnismäßig groß wirkende Lauscher, gerade verlaufende Rückenlinie, eng stehende Vorderläufe (schmale Brust) und eher zarter Körperbau sind klassische Merkmale für Rehgeißen im zweiten Lebensjahr, deren Erlegung zu Beginn der Schusszeit das Gebot der Stunde ist. Gesunde Schmalgeißen verfärben zudem früher als ihre älteren Artgenossinnen. Eindeutigstes Merkmal ist jedoch das Fehlen der sogenannten Spinne, also eines laktierenden Gesäuges.
Auch wenn die erstgenannten Eigenschaften in Summe bereits recht aufschlussreich sein können, sorgen individuelle Unterschiede im Körperbau, Haarwechsel und mangelnde Vergleichsmöglichkeit mit älteren Individuen häufig für Zweifel; das Fehlen oder Vorhandensein einer Spinne, dem untrüglichsten Zeichen von Trächtigkeit oder Säugetätigkeit, ist aber oft nur durch Verwendung eines Spektivs mit Sicherheit zu bestätigen.
Zu Beginn der Schusszeit kann diese noch kaum oder schwach entwickelt, nach dem Setzen in ausgesaugtem Zustand lediglich durch hervortretende Zitzen zu sehen sein. Bei dreißigfacher Vergrößerung entgeht dem Betrachter kein Detail, durch das sechsfache Glas sind entscheidende Feinheiten hingegen kaum auszumachen. Bei der Bejagung von Schmalgeißen sei immer bedacht, dass führende Geißen ihre Kitze in den ersten Wochen ablegen und somit allein anzutreffen sind. Auch später „kleben“ Geiß und Kitz(e) nicht aneinander, und manchmal äst eine vermeintlich nicht führende Geiß eine Stunde allein, bis plötzlich der Nachwuchs aus dem Waldrand nachzieht.
Falscher Gesamteindruck und fehlender Blick zwischen die Hinterläufe könnten hier fatale Folgen haben.
Schmaltiere ansprechen
Da Rotwild zumeist in Rudeln vergesellschaftet ist, bietet sich beim Ansprechen in der Regel der direkte Vergleich mit anderen Stücken. Zu Beginn der Vegetationszeit ist für gewöhnlich noch ein deutlicher Größen- und Gewichtsunterschied zu älteren Tieren gegeben, der jedoch stetig abnimmt.
Auch hier sind das kürzere, dreieckig wirkende Haupt auf schmalem, aufrechtem Träger, eine gerade Rückenlinie, der kaum vorhandene Brustspitz und der frühere Haarwechsel äußere Merkmale, die neben dem Verhalten im Rudel herangezogen werden können.
Da Kälber bereits ab dem ersten Lebenstag auf den Läufen sind, ist die Zugehörigkeit zu einem Muttertier meist gut erkennbar. In den Wochen um den Setztermin werden Schmaltiere allerdings von ihren Müttern abgeschlagen, weshalb sie zu dieser Zeit durchaus auch einzeln anzutreffen sind. Wieder ist es das (fehlende) Gesäuge, das den entscheidenden Hinweis liefert, wenn Vergleichsmöglichkeiten und mitunter schlicht die Erfahrung fehlen.
Bereits im Juli, wenn sie sich wieder der Mutterfamilie anschließen, sind gesunde Schmaltiere körperlich gut entwickelt und hinsichtlich Widerristhöhe kaum noch von älteren Stücken zu unterscheiden. Für die Bejagung ist entscheidend, dass eine Erlegung im Rudel zwar beim Ansprechen den Vorteil des direkten Vergleichs bieten mag, jedoch zu massiver Beunruhigung aller anderen Stücke und damit zu weiten Fluchten, erschwerter Bejagbarkeit und in weiterer Folge eventuell zu unerwünschtem Verbiss- und Schälverhalten führt. Somit empfiehlt sich der Abschuss von Schmaltieren (und Schmalspießern) ohne dem Beisein von „Zeugen“, was am ehesten im Mai und Juni gelingt.
Fazit
Da ein kurzer Artikel und ein paar Fotos zwar hilfreich sein, aber weder Erfahrung noch echtes Wissen ersetzen können, sei jedem die Lektüre geeigneter Literatur, die Verwendung eines Spektivs und echtes Interesse am Beobachten ans Herz gelegt.
Viel Zeit im Revier, Neugierde und der Austausch mit erfahrenen Jägern sind für den Erwerb von handwerklichem Können und profundem Wissen unabdingbar.
Im Gegensatz zu früher, als Berufsjägeranwärter noch mit Papier und Bleistift aufbaumten, um das Gesehene mühsam zu dokumentieren, haben wir heute Handykameras für Fotos und Videoaufnahmen immer dabei. Der Entwicklung jagdlicher Fähigkeiten sind also höchstens zeitliche Grenzen gesetzt. Kluge, an das eigene Können angepasste Jagdstrategien werden den Jagderfolg steigern und helfen, Fehler zu vermeiden; blitzschnelles Ansprechen in der engen Waldschneise oder der genaue Blick auf das schöpfende Stück am Bach – die Situation bestimmen wir meist selbst. Die alte Weisheit „Beim Jagern lernt man nie aus“ trifft ganz besonders auf das Ansprechen von Wild zu und darf uns Antrieb und Leitfaden sein. Aber auch die Erkenntnis, dass beim Ansprechen selbst der erfahrenste Jäger an seine Grenzen stoßen kann und in solchen Fällen „Finger lang“ die beste Entscheidung ist.