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Gams oder gar nicht

25. Oktober 2022 -
Gams oder gar nicht - © Reiner Bernhardt
© Reiner Bernhardt

Während sich manche Wildtiere bereits im Winterschlaf befinden, meldet sich der Gams zu Wort. Im November beginnt die Paarungszeit dieses urigen Wildes, aber nur die stärksten Böcke kommen zum Zug. Oder etwa doch nicht?

Strahlend blauer Himmel, weit und breit keine Wolke in Sicht. Es herrschen optimale Bedingungen im Revier. Während mein Blick durchs Fernglas über den gegenüberliegenden Hang schweift, kann ich einen Gamsbock ausmachen, der sich durch den anderthalb Meter hohen Tiefschnee kämpft. Zielgerichtet nähert er sich einer Fels­formation und springt scheinbar mühelos eine steile Wand empor. Auf einem kleinen Plateau hält er inne und mustert das Terrain unter sich. Der Platzbock ist bereit, seinen Rivalen das Fürchten zu lehren.

Teilnahmebedingung

Während andere Tierarten in den nun kälter werdenden Monaten ihren Stoffwechsel reduzieren, um Energie zu ­sparen, nimmt die Aktivität beim Gamswild, vor allem jene der Böcke, zu: Anfang November beginnt in der Regel die Brunft, und abhängig von ­Revier und Höhenlage kann sich diese etwas nach hinten verschieben. Hat man genügend alte Böcke im Revier, klingt die Gamsbrunft im Dezember langsam aus.
Um für dieses kraftraubende Spektakel gewappnet zu sein, müssen die Gamsböcke in der Feistzeit ausreichend Fettreserven anlegen. Interessant: Gut vorbereitete Individuen sind bis zu 40 % schwerer als Geißen. Dies ist auch mehr als notwendig, denn während der Brunft bleibt kaum Zeit zum Äsen. Das Hauptaugenmerk liegt nun bei der erfolg­reichen Weitergabe der eigenen Gene.
Damit die Gamsbrunft reibungslos über die Bühne gehen kann, ist eine intakte Sozialstruktur essenziell. Gibt es zu wenige alte Böcke im Revier, nehmen verstärkt jüngere an der Brunft teil. Dies hätte fatale Folgen für die unerfahrenen Jungspunde, denn wenn sie nicht von den alten Artgenossen in die Schranken gewiesen werden, veraus­gaben sie sich während der Paarungszeit völlig. Als Folge davon steht ihnen nach der Brunft keine Energie mehr zur Verfügung. Die folgenden äsungsarmen, kalten und schneereichen Wintermonate, die bereits für gut konditionierte Wildtiere eine Herausforderung sind, wären für die ausgelaugten, jungen Gamsböcke der sichere Tod.
Leben in einem Revier ausreichend alte männliche Individuen, nehmen in der Regel erst Böcke ab dem sechsten Lebensjahr an der Brunft teil. Selbst in diesem Alter ist es schwierig, sich als Platzbock behaupten zu können. Die Position dieser dominanten Individuen wird meist von erfahrenen Gams­böcken eingenommen, die zwischen acht und dreizehn Jahre alt sind.

Gams oder gar nicht - © Reiner Bernhardt
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Gams oder gar nicht - © Reiner Bernhardt
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Gams oder gar nicht - © Reiner Bernhardt
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Gams oder gar nicht - © Sven-Erik Arndt
© Sven-Erik Arndt
Gams oder gar nicht - © Reiner Bernhardt
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Finger weg

Die Sommermonate, in denen große Gamsgeißen-Verbände zusammenstehen, sind vorüber. Die weiblichen Individuen bilden stattdessen im Herbst kleine Rudel, die jeweils von einem alten Bock verteidigt werden. Bereits seit Ende Oktober präsentieren sich die ­territorialen Gamsböcke an exponierten Geländekanten mit einem einzigen Ziel: potenzielle Rivalen einzuschüchtern und aus dem Gebiet zu vertreiben. Sobald sich ein Konkurrent nähert, vergrößert der Platzbock sein Erscheinungsbild, indem er sein langes Rückenhaar, den Gamsbart, aufstellt. Durch diese imposante Körperhaltung signalisiert er dem Gegenüber seine Überlegenheit. Im Optimalfall reicht dieses „Präsentieren“ bereits aus, um Gegner in die Flucht zu schlagen. Bei diesem Verhalten handelt es sich um eine „Kampfvermeidungsstrategie“, die lebensnotwendige Energie spart.
Trifft der Platzbock jedoch auf einen ebenbürtigen Konkurrenten, so ist dieser nicht so leicht zu vertreiben. Die Rivalen zeigen die Breitseite und umkreisen einander mit gesträubtem Gamsbart. Zeigt dieses Imponiergehabe ebenfalls keine Wirkung, so liefern sich die Duellanten eine waghalsige Ver­folgungsjagd über Felsen und Schneefelder, wobei der Verfolger schnell zum Verfolgten werden kann. Bis zum Schluss bleibt der Ausgang der Hetzjagd ungewiss.
Aufgrund des unwegsamen Ge­ländes, in dem diese Rangordnungskämpfe stattfinden, kommt es nicht selten vor, dass einer der potenziellen Platzböcke in eine missliche Lage gerät. Bleibt zum Beispiel einer der Rivalen im Tiefschnee stecken und hakelt wild um sich, kann er dabei die Flanken seines Kontrahenten erwischen, woraus beim Widersacher ernste Verletzungen resul­tieren können. In der Regel versuchen die Tiere jedoch, ernsthafte Auseinandersetzungen zu vermeiden, um nicht mehr Energie als notwendig zu verbrauchen.

Flehmen

Im Gegensatz zu den Böcken nehmen Gamsgeißen bereits mit einem Alter von drei Jahren an der Brunft teil. Sie scheinen jedoch von den Verfolgungsjagden der männlichen Tiere wenig ­angetan. Die weiblichen Stücke warten beharrlich, bis die Gamsböcke ihre Rangordnungskämpfe beendet haben und der Platzbock zurückgekehrt ist. Da die Geißen nur in einem kurzen Zeitfenster von 2–3 Tagen brunftig sind, ist es seine Aufgabe, ständig die Aufnahmebereitschaft der Gamsgeiß zu prüfen. Dafür windet der Bock ­kontinuierlich ihren Harn, sobald diese genässt hat. Der Platzbock zieht die Oberlippe hoch, hebt sein Haupt und saugt den Brunftgeruch der Geiß intensiv ein. Dies tut er, um den Geruch zum Jacobson’schen Organ führen zu können, das die Sexualhormone entschlüsselt. Man nennt das „Flehmen“.
Nimmt der Bock eine hochbrunftige Geiß wahr, so muss er diese zum Teil lange durch das Gebiet treiben und umwerben, bevor es bereit dazu ist, ­beschlagen zu werden. Durch konsequentes Blädern und Absondern eines würzig-strengen Moschusduftes über die Brunftfeigen hinter den Krucken buhlt der Platzbock um die Gunst der Geiß. Verpasst er das kurze Aufnahmefenster der Geiß oder misslingt trotz mehrmaligen Beschlagens die Befruchtung der Eizelle, bedeutet dies nicht automatisch, dass er erst im nächsten Jahr wieder die Chance erhält, sich fortzupflanzen. Nicht befruchtete weibliche Tiere werden drei Wochen später ein weiteres Mal brunftig – eine neuerliche Möglichkeit für die männlichen Individuen, ihre Gene an die nächste Generation weiterzugeben. Das Ganze wiederholt sich, bis die Gamsgeiß schließlich erfolgreich beschlagen worden ist. Späte Befruchtungen ziehen jedoch einen gehörigen Nachteil nach sich, denn im Folgejahr werden die Kitze später gesetzt, wodurch diese Jungtiere im ersten Winter eine geringere Überlebenschance haben.

Vaterschaftstest

Ob am Ende der Brunft tatsächlich der Platzbock für all seine befruchteten Stücke im Rudel verantwortlich ist, bleibt ein Geheimnis. Immer wieder gibt es Situationen, in denen er einen Konkurrenten aus dem Gebiet vertreibt und folglich sein Rudel nicht im Blick hat. Die sonst rangniedrigeren Böcke, die sich in der Nähe der Geißen aufhalten, jedoch keine Chance in einem direkten Duell gegen den Platzbock hätten, nutzen die Gunst der Stunde und versuchen ihrerseits, eine hochbrunftige Geiß zu beschlagen. Immer wieder ist diese Strategie des An­schleichens bei untergeordneten Tieren von Erfolg gekrönt.
Sobald die Brunft abgeschlossen ist und die Gene erfolgreich weitergegeben worden sind, haben die Böcke nur noch eines im Sinn: den Winter zu über­leben. Damit dies auch tatsächlich ­gelingt, muss der Gams in den Energiespar­modus übergehen. Dabei ist es essenziell, dass den ehemaligen Platzböcken in ihren Einständen Ruhe gewährt wird, denn sämtliche Fettreserven, welche sich die Tiere für die Brunft zugelegt haben, sind aufgebraucht. Jede Störung kann jetzt fatale Folgen für das Gamswild haben.
Die Aufgabe der Jägerinnen und Jäger muss es sein, unwissende Freizeit­nutzer, die sich in unseren ­Revieren falsch verhalten, aufzuklären, damit die Wildtiere den Winter wohlbehalten überstehen können.