Das Gamswild ist eine Charakterwildart des Gebirges. - © Christof Steirer
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Serie

Für Jäger und Naturinteressierte bietet jeder Monat des Jahres seine Highlights. Während manche Naturschauspiele, wie Brunft oder Balz, meist recht spektakulär ablaufen, gibt es auch zahlreiche Details, die uns auf den ersten Blick verborgen ­bleiben. Zeit, diese vor den Vorhang zu holen. – Gamswild.

Der Winter klopft bereits an die Tür. Die Laubbäume haben ihre Blätter abgeworfen, und auch die Tierwelt stellt sich auf die ungemütliche Jahreszeit ein. Während Fasane damit beschäftigt sind, geeignete Winterquartiere auf­zusuchen und Rehböcke ihre Stangen abwerfen, kommt das Sikawild nach der Brunft langsam zur Ruhe. Alles ­bereitet sich auf den Winter vor, wie es scheint. Doch der Schein trügt. Richten wir unseren Blick ins Gebirge, können wir eine Wildart beobachten, die im November erst richtig aktiv wird: das Gamswild.

Erhitzte Gemüter

Bereits Ende Oktober haben sich die territorialen Böcke an exponierten ­Geländekanten positioniert, um sich all­fälligen Konkurrenten zu präsentieren und diese zu vertreiben. Die Böcke sind nun sehr aggressiv und unter­einander unverträglich. Sie haben den Haarwechsel zum schwarzen Winter­kleid abgeschlossen und sich den Feist für die anstehende Brunft in den letzten Monaten angeäst. Sie sind bereit! Im November hat das Gamswild Hochbrunft. Platzböcke verteidigen die Schar­wildrudel, bestehend aus Geißen, Kitzen und Jahrlingen, und begutachten regelmäßig den Harn der Geißen, wenn diese genässt haben, um deren Aufnahmebereitschaft zu prüfen. Die Geißen sind nur etwa zwei bis drei Tage brunftig und müssen in dieser Zeit beschlagen werden. Daher werden andere Böcke in dieser Zeit vehement vertrieben. Die Hetzjagden zweier Konkurrenten enden nicht selten tödlich. Die Brunft des Gamswildes ist eine heikle Angelegenheit. Sie findet in der ­kalten Jahreszeit statt, in der eigentlich Energie gespart werden sollte. Doch das Gegenteil ist der Fall, geht es doch um das Recht, seine Gene an die nächste Generation weiterzugeben.

Zur Brunft kämpfen die Böcke vehement um die besten Einstände. - © Stefan Meyers

© Stefan Meyers

Die Sache mit den alten Böcken

Abhilfe schaffen die alten Böcke, die das Brunftgeschehen dominieren und die Jungspunde in ihre Schranken ­weisen. Dadurch werden die brunftigen Geißen schnell beschlagen. Fehlen die Alten, versuchen sich die Jungen und ver­ausgaben sich dabei dermaßen, dass viele von ihnen den Winter nicht überstehen. Außerdem werden durch das Drunter und Drüber nicht alle ­Geißen beschlagen. Diese durchlaufen dann einen erneuten Östrus und ­werden drei Wochen später erneut brunftig. Das zieht sich so lange hin, bis sie schließlich beschlagen werden. Je später dies jedoch geschieht, desto später werden im nächsten Jahr auch die Kitze gesetzt; sie haben folglich in ihrem ersten Winter schlechtere ­Überlebenschancen. Nun halten die brunftigen Geißen auch die Böcke hormonell aktiv. Dabei geht es vor allem um das männliche Sexualhormon Testosteron. Ein Nebeneffekt dieses Hormons ist eine herabgesetzte Immunabwehr, die dazu führt, dass die Böcke in dieser Zeit nachweislich anfälliger für Krankheiten und Parasiten sind. Hinzu kommt, dass die Platzböcke während der Brunft ständig wachsam sind und daher kaum äsen. Sie zehren also von den Energiereserven der letzten Monate. Während Böcke zu Beginn der Brunft bis zu 40 % schwerer als Geißen sind und dreimal so viel Nieren­fett wie diese haben, gleicht sich dies nach der Brunft wieder an. Ist eine gesunde Sozialstruktur des Gamswildes gegeben, klingt die Brunft im Dezember aus. Spätestens jetzt ist Energiesparen angesagt. Der Stoffwechsel wird stark reduziert, und auch das Hornwachstum der Krucken wird eingestellt. ­Dadurch bilden sich die sogenannten „Jahresringe" an den Krucken, anhand derer das Alter der Gams bestimmt werden kann.

Um an Äsung zu kommen, scharren die Tiere den Schnee weg. - © Michael Breuer

© Michael Breuer

Kindergärten

Bis zum Frühjahr überwintert das Gamswild in Rudeln – nur alte Böcke bilden die Ausnahme – und scharren den Schnee weg, um an Äsung zu ­kommen. Da dies an ­exponierten Stellen, wo der Wind den Schnee ­verweht, sowie an steilen, sonnen­beschienenen Hängen einfacher ist, sucht das Gamswild im Winter nach Verfügbarkeit steile Südhänge auf. Dort apert Nahrung schneller aus und der Schnee rutscht ab. Allerdings ist auf diesen Flächen auch die Gefahr von ­Lawinen größer, was in Kombination mit dem zehrenden Winter in den Hoch­lagen zu Fallwildverlusten führt. Daher werden nicht selten auch tiefer gelegene Waldflächen als Einstand auserkoren, zum Leid vieler Forstwirte.

Im April wird es wieder wärmer, und der Haarwechsel vom tiefschwarzen, langen und dichten Winterkleid hin zum kürzeren beigebraunen Sommerkleid beginnt. Mit Beginn der Vegetations­periode zieht das Gamswild wieder in höhere Lagen. Ende Mai werden bereits die ersten Kitze gesetzt, Hauptsetzzeit ist jedoch der Juni. In dieser Zeit werden die Jahrlinge von der Geiß für zwei bis drei Wochen abgeschlagen. Nach dem Setzen finden sich die Geißen mit ihren Kitzen und den ­Jahrlingen wieder in Scharwildrudeln zusammen, junge Böcke bilden eigene Junggesellen­trupps, und alte Böcke ziehen weiterhin allein umher. Teilweise kann beobachtet werden, wie sich Kitze in sogenannten „Kitzkindergärten" zusammenfinden. Sie werden dabei von einzelnen Geißen bewacht. So können sich die anderen Geißen in dieser Zeit für die kräftezehrende Laktation (Versorgung der Kitze mit Milch, Anm.) und den anstehenden Winter rüsten. Der Sommer kann auch im Gebirge sehr warm sein. Daher sucht das Gamswild in den heißen Monaten kühlere Einstände auf und wechselt hierfür auf die nordseitigen Berghänge oder in schattige Bachbetten. Lange währt die Hitze nicht, schon im September beginnt der Haarwechsel ins Winterkleid. Die Scharwildrudel sammeln sich oberhalb der Waldgrenze, und die Feistzeit der Böcke beginnt. Die sechsmonatige Säugezeit hält noch bis zur Brunft an. Der Körper stellt sich um – unter anderem durch ein kleineres Pansenvolumen und ­reduziertes Wachstum der Krucken.

Im Sommer sammeln sich die Kitze in sogenannten "Kitzkindergärten". - © Christof Steirer

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Angepasst

Das Gamswild ist perfekt an seinen Lebens­raum im Gebirge angepasst. Durch die Ballenhaut zwischen den Schalen kann es sich auch auf kleinsten Felsvorsprüngen fortbewegen. Das Herz ist um 25% größer als das des Menschen, und der Puls mit 200 Schlägen pro ­Minute mehr als doppelt so hoch wie der Ruhepuls eines gesunden erwachsenen Menschen. Dadurch kann der Körper auch in großen Höhen optimal mit Sauerstoff versorgt werden. Die optimalen Lebensräume werden von den Scharwildrudeln besetzt. Diese liegen meist in übersichtlichen Be­reichen oberhalb der Waldgrenze, wo potenzielle Gefahren schnell erkannt werden können. Böcke nutzen die ­übrigen Habitate, meist unterhalb der Scharwildrudel. Abhängig ist die Habitatwahl etwa von Klima, Nahrungs­angebot, Feinden, Störung, Alter und Geschlecht. Nicht selten wird auch der Wald genutzt. Entgegen der weitverbreiteten Meinung, dass dies art­untypisch sei, belegen Studien anhand von archäozoologischen Daten, dass Gamswild bereits nach Ende der letzten Eiszeit steile, bewaldete Habitate genutzt hat. Wichtig sind auf alle Fälle steile, felsige Bereiche, die dem Sicher­heits­bedürfnis dieser interessanten Wildart gerecht werden.

Foto Christof Steirer