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Kampf der Titanen

31. August 2022 -
Kampf der Titanen - © Willi Rolfes
© Willi Rolfes

Ein röhrendes Freiluftkonzert hallt durch die Wälder. Krachende Geweihstangen mischen sich in das imposante Röhren. Es ist wieder so weit: Die Hirschbrunft hat begonnen.

Die Sonne ist soeben hinter dem Horizont verschwunden, das Licht schwindet ­zusehends. Mit schnellen Schritten entfernt sich der Platzhirsch von seinem Brunftrudel und nähert sich ziel­gerichtet unserer Position. Der von uns imitierte, herausfordernde Kampfruf und die Birschstockhiebe auf den Busch neben uns haben ihre ­Wirkung nicht verfehlt. Wir können den Geweihten noch nicht einmal sehen, steigt uns schon sein intensiver Brunftgeruch in die Nase. Das Glück ist uns hold, denn der Wind hat sich nicht ­gedreht.
Als wir den Achtzehnender zu ­Gesicht bekommen, ist er nur noch ­wenige Meter von uns entfernt. Der Schirm, in dem wir uns befinden, bietet uns nicht nur Tarnung, sondern auch ausreichend Schutz, den wir nun gut brauchen können. Das Adrenalin steigt, der Puls schlägt bis zum Hals. Etwa fünf Meter vor uns bleibt der ­Kapitale stehen und sucht nach dem vermeintlichen Konkurrenten, der ihm sein Brunftrudel abspenstig machen will. Erbost forkelt er mit seinem ­Geweih geräuschvoll den Boden, mit der Absicht, seinen Rivalen in die Schranken zu weisen. Tief durchatmen.

Wandertag

War im August die Rehbrunft noch in aller Munde, so kommt es nun, Anfang September, bereits zum nächsten Natur­schauspiel. Zumindest in den Niederungen, wie unter anderem in Wien in den Donauauen, denn dort ­findet nun die Hirschbrunft statt. ­Jägerinnen und Jäger in höher gelegenen Revieren müssen sich noch etwas in Geduld üben, denn bei ihnen verpaart sich das Rotwild meist erst Ende Sept­ember, Anfang Oktober. Unabhängig von der Höhenlage dauert die Hirschbrunft jedoch in allen Revieren etwa zwei bis drei Wochen, in Ausnahme­fällen sogar vier.
Am Ende der Feistzeit, wenn die Geweihträger ausreichend lebensnotwendige Fettreserven angelegt haben, verlassen die Hirsche ihre Feistrudel. Eingeleitet wird diese Wanderung durch den gestiegenen Testosteronhaushalt, weswegen sich die paarungsbereiten Rothirsche untereinander nun nicht mehr dulden. Die Geweihträger wandern Strecken von bis zu hundertzwanzig Kilometer zu den ihnen bekannten Brunftplätzen, denn der Fokus liegt jetzt lediglich in der erfolgreichen Weitergabe der eigenen Gene.
Rein biologisch gesehen könnten Hirsche ab dem zweiten Lebensjahr an der Brunft teilnehmen, jedoch kommt dies in der Regel nicht vor. In Populationen mit ausgeglichenem Alters- und Geschlechterverhältnis beteiligen sich erst Hirsche ab dem sechsten Lebensjahr an der Brunft, jüngere Individuen werden von den älteren Artgenossen rigoros in die Schranken gewiesen. Dieses Rangordnungssystem dient auch als Schutz für die Jungspunde. Denn ­während der Paarungszeit verlieren Rothirsche aufgrund der körperlichen Strapazen und der mangelnden Nahrungsaufnahme etwa 20 % ihres Körpergewichts. Die anschließenden, äsungsarmen Wintermonate würden für viele junge Hirsche den sicheren Tod bedeuten.

Kommunikation ist alles

Zu Beginn der Hirschbrunft ist es noch verhältnismäßig ruhig in den Revieren, doch mit zunehmender Zeit steigt die Hirschdichte auf den Brunftplätzen. Ein wahres Schreikonzert ist nun in den Wäldern zu vernehmen. Das Röhren ist jedoch mehr als nur reines Imponiergehabe der Hirsche. Ein Repertoire an Ruflauten dient sowohl der Kommunikation mit Rivalen (= intrasexuelle Kommunikation) als auch dem Informationsaustausch mit den Hirschtieren (= intersexuelle Kommunikation). Erfahrene Jäger kennen die Unterschiede zwischen den unterschiedlichen Rufen und imitieren diese mithilfe natürlicher oder künstlicher Lockinstrumente bei der sogenannten „Rufjagd“. „Wild­biologisches Wissen ist ein wichtiger Bestandteil des Jägerhandwerks“, weiß auch Christian Hochleitner, Berufs­jäger und mehrfacher Staatsmeister im Hirschruf.
Wichtige Lautäußerungen, die man während der Rufjagd auf den Hirsch zu hören bekommt und selbst nachahmen kann, sind: Der Ruf des suchenden ­Hirsches, das Rasseln des Platzhirsches, der Sprengruf, das Mahnen des Tieres, das Knören des abgebrunfteten Hirsches und der Kampfschrei. All diese Rufe kommen in unterschied­lichen Situationen zum Einsatz: Beispielsweise wird der Ruf des suchenden Hirsches an­gewandt, wenn kein Rothirsch im ­Revier zu hören ist und man einen zum Röhren animieren will. Das ­richtige Deuten der Rufe sowie die ­korrekte Antwort sind also das Fundament des Erfolgs.
Aufgrund der Frequenz an Laut­äußerungen, die die Hirsche während der Paarung von sich geben, verändert sich deren Tonlage bis zum Ende der Brunft. Das häufige Röhren belastet die Stimmbänder der Geweihträger, ­wodurch die männlichen Individuen zum Ende hin regelrecht „heiser“ ­werden und nur noch tiefe Laute von sich geben.

Kampf der Titanen - © Sven-Erik Arndt
© Sven-Erik Arndt
Kampf der Titanen - © Karl-Heinz Volkmar
© Karl-Heinz Volkmar
Kampf der Titanen - © Kurt Kracher
© Kurt Kracher
Kampf der Titanen - © Dieter Hopf
© Dieter Hopf
Kampf der Titanen - © Helge Schulz
© Helge Schulz
Kampf der Titanen - © Wolfgang Radenbach
© Wolfgang Radenbach

Kämpfende Könige

Nicht jeder adulte, paarungswillige Hirsch bekommt die Gelegenheit, sich fortzupflanzen. Nur dem Platzhirsch wird dieses Privileg zuteil. Doch wie wird dieser ermittelt? Hierfür gibt es eine Abfolge an Brunftritualen, welche die Rothirsche abarbeiten. Zunächst gibt einer mehrere Brunftrufe hintereinander von sich und versucht, mit diesem Imponiergehabe sein Gegenüber einzuschüchtern. Im Optimalfall reicht dies aus, um einen Rivalen zu verscheuchen. Genügt das Röhren ­jedoch nicht, beginnt der potentielle Platzhirsch mit seinem Geweih, den Boden aufzuwühlen (Bodenforkeln). Handelt es sich beim Rivalen um einen un­erfahrenen, jüngeren Rothirsch, so lässt sich dieser dadurch meist vom Brunftplatz vertreiben.
Steht dem Platzhirsch ein erfahrener, gleich starker Konkurrent gegenüber, läuft das Aufeinandertreffen meist anders ab: Die beiden Könige der ­Wälder präsentieren einander ihre Breitseite und schreiten in imposanter Körperhaltung parallel zueinander. Zeigt auch diese Machtdemonstration keine Wirkung, kommt es zum finalen Showdown. Die Konkurrenten senken ihre Häupter und krachen mit den Geweihen aneinander. Der Aufprall ist oft ­Hunderte Meter durch das Revier zu hören. Während des Kräftemessens versuchen die Kontrahenten, ihr Gegenüber wegzuschieben.
Bei klaren Angelegenheiten ist der Kampf bereits nach wenigen Sekunden zu Ende, und der Unterlegene zieht sich zurück. Ein Duell auf Augenhöhe kann hingegen mehrere Minuten lang dauern und ist extrem kräfteraubend. Aufgrund der Geweihstruktur der Rothirsche zieht solch eine körperliche Auseinandersetzung oft die eine oder andere Fleischwunde nach sich. In ­seltenen Fällen kann eine der Geweihspitzen tief in den Körper des Gegners eindringen und diesen derartig verletzen, dass der Kampf tödlich endet.

Heimlicher Verehrer

Auf dem Blatt Papier klingt das alles einfach: Der Gewinner des Duells ist der Platzhirsch, und nur ihm obliegt das Vorrecht zur Fortpflanzung mit dem vorliegenden Kahlwildrudel. In der Realität sieht das Ganze jedoch etwas anders aus. Während der aktuelle Platzhirsch sein Brunftrudel gegen einen Herausforderer verteidigt, ist sein Kahlwildrudel unbeaufsichtigt. Dieses Zeit­fenster wird nicht selten von raffinierten ­Außenseitern schamlos ausgenutzt. Die sonst chancenlosen Recken nutzen die Gunst der Stunde und beschlagen ein brunftiges Tier aus dem Rudel, um auch ihre Gene an die nächste ­Generation weitergeben zu können. Diese Strategen werden in der Wissenschaft auch als „Sneaky Fuckers“ bezeichnet.
Diese strategische Meisterleistung ist jedoch nur dann von Erfolg gekrönt, wenn die Hirschtiere auch tatsächlich brunftig sind. Der Eisprung des Tieres wird unter anderem durch das Röhren und den Duftstoff im Urin des Hirsches stimuliert. Brunftige Tiere signalisieren ihre Paarungsbereitschaft, indem sie ihren Rücken krümmen, die Hinterläufe einwinkeln und das Haupt ­senken. Hat der Hirsch ein brunftiges Tier ­ausgemacht, nähert er sich ­diesem, schleckt mit seinem Lecker über das Feuchtblatt und reitet im Anschluss auf das Rottier auf. Um eine erfolg­reiche Befruchtung sicherzustellen, beschlägt der Geweihträger das brunftige Hirschtier noch mehrmals hintereinander. Trotz dieses engagierten ­Einsatzes ist eine erfolgreiche Befruchtung nicht immer garantiert. Im Falle eines Misserfolgs gibt es allerdings noch weitere Möglichkeiten, die Eizelle zu befruchten, denn bei den Tieren kommt es während der Brunft mehrmals im Abstand von etwa 18 Tagen zum Eisprung. Durchhaltevermögen ist somit gefragt.
Klar ist, dass die Hirschbrunft mehr ist als nur die Paarungszeit eines Wildtieres. Es handelt sich um ein ­Naturschauspiel, das sowohl akustisch als auch optisch einiges zu bieten hat.
Für uns Jäger ist die Rufjagd während der Hirschbrunft oft sogar der Höhepunkt des Jagdjahres, und das zu Recht. Auch Christian Hochleitner bestätigt: „Je näher man dem Wild kommt, desto intensiver ist das Erlebnis!“