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Mühsamer Hahnenmorgen

4. April 2024 -
Sonnenaufgang im Gebirge - © Leif-Erik Jonas
© Leif-Erik Jonas

Von strauchelnden Birkhennen, Strapazen im Schnee und dem Zwiegespräch mit einem balzenden Birkhahn.

Der Winter hatte sich mehrheitlich von seiner zahmen Seite gezeigt. Während in den tiefen Lagen bereits der Frühling Einzug gehalten hatte, präsentierte sich das Hochgebirge noch unwirtlich. Und doch gab es auch dort erste Frühlingsboten. Obwohl der April seine Mitte noch nicht erreicht hatte, wollte ich daher erstmals im neuen Jahr den ­weiten Weg hinauf zur Waldgrenze auf mich nehmen, um die Spielhahnen zu verlosen.
Nach einer schlaflosen Nacht fuhr ich auf der Sonnseite eine schmale, asphaltierte Bergstraße zu einem hoch gelegenen Weiler hinauf und von dort weiter auf einem Forstweg. Weit kam ich auf Letzterem jedoch erwartungsgemäß nicht, denn noch lag zu viel Schnee. Also ließ ich mein Fahrzeug stehen und setzte meinen Weg zu Fuß fort. Die sich in engen Kehren den Berg hinauf­windende Forststraße war zwar noch fast vollständig schneebedeckt, der Schnee aber trug – und wo immer möglich, kürzte ich ohnehin durch den Hochwald ab. Das Steigen fiel leichter als erhofft, und nur eine Dreiviertelstunde war vergangen, bis mich kaum mehr als ein weite­­­r Büchsenschuss von der Waldgrenze trennte. Hier wurde der Wald lichter, es lag etwas mehr Schnee – und dieser Schnee war sulzig weich und trug nicht. Meist sank ich bis zu den Waden oder Knien ein.

Birkhenne - © Leif-Erik Jonas

© Leif-Erik Jonas

Strauchelnde Birkhenne

Der Wald lichtete sich immer weiter. Da vernahm ich aus einer nahen Lärche heftiges Geflatter und sah im Stirnlampenlicht ein Stück Birkwild in die vom Halbmond schwach erhellte Nacht hinausgleiten, gefolgt von einem zweiten. Ich mühte mich wieder einige Schritte den waden­tief schneebedeckten Hang hinauf – und wieder ­Geflatter! Von einem zwei, höchstens drei Arm­längen entfernten, tief hängenden Ast stießen­­­­ sich mit kräftigem Schwingenschlag zwei Birkhennen ab und aus der danebenstehenden Lärche eine weitere. Während die zwei ohne Probleme in die Nacht entschwanden, hatte die einzelne zweifellos Schwierigkeiten – ob ihr die Finsternis zu schaffen machte, mein Lampenlicht sie ­blendete oder ob es beides gewesen ist, kann ich nicht sagen.
Was sich dann zutrug, war so unglaublich, dass ich es niemandem übelnehmen kann, wenn er es meiner blühenden Fantasie zuschreibt und schlicht als pures Jägerlatein abtut – aber es hat sich doch genau so zugetragen: Vielleicht drei Bergstocklängen über mir flog die Henne gegen einen starken Lärchenast, kam dadurch ins Trudeln­­­­, fiel etwas tiefer in feineres Gezweig, konnte dort ihre Schwingen nicht mehr richtig einsetzen und stürzte richtiggehend ab – genau auf mich herunter. Dass ich sie auffing, war kein großes Kunststück, sondern einfach ein Reflex. Die Henne wirkte geradezu paralysiert, lag in meiner Hand und rührte sich kaum. Schnell kramte ich meine Kamera hervor, schoss ein Foto – und der Blitz brachte den herrlich braun ­gesprenkelten Vogel offenbar wieder zu sich. Er schlug mit seinen Schwingen, flatterte zu Boden, saß ein, zwei Mannsschritte unter meinem Standort, drehte sich dann herum, flog bodennah wenige Meter bergwärts, blieb etwas oberhalb von mir sitzen – und griff mich von dort an, schlug mit seinen harten Schwingenbugen nach mir, ließ aber bald ab, flatterte unter eine nahe Jungfichte, saß dort eine Weile, beruhigte sich wohl und burrte schließlich ganz normal davon.

Schneestrapazen

Ich stieg weiter und hatte bald die Waldgrenze erreicht. Was mich jetzt erwartete, war nichts als eine elende Tortur. Hier auf dem flache­­­n Alm­rücken lag nämlich weit mehr Schnee als im Hochwald, im Durchschnitt vielleicht etwas ­weniger als ein Meter. Und dieser Schnee war von solch ungünstiger Beschaffenheit, wie man es selbst im Frühjahr nur höchst selten erlebt. Das war kein normaler Bruchharsch, auch kein frühjahrstypischer Sulz – das war so etwas wie eine Mischung aus beidem, die Fuß und Bein bei jedem Stapfschritt regelrecht einbetonierte.
Von meinem Ziel – einem alten, halb ver­fallenen Heustadl – trennte mich jetzt noch die Entfernung eines weiten Büchsenschusses. Und allein für dieses kurze Stück sollte ich beinahe eine volle Stunde benötigen. Wie soll man, wenn man bis fast zu den Hüften im hart gefrorenen Schnee feststeckt, auch noch einen Schritt bergwärts machen? An den schlimmsten Stellen gab es nur eine Lösung: Auf allen Vieren kroch und krabbelte ich den Hang hinauf. Dabei nahm ich den Bergstock in beide Hände, legte ihn flach auf den Schnee, sodass sich mein Gewicht ähnlich wie bei einem Ski besser verteilen konnte und ich kaum einbrach.
Immer, wenn es wieder einmal ganz zäh ­herging, überlegte ich, ob ich nicht einfach ­um­kehren und mir diesen Wahnsinn nicht länger antun sollte. Aber ich entschied mich dagegen. Ich hatte mich jetzt schon so weit den Berg ­hinaufgemüht – das sollte nicht alles umsonst gewes­­en sein.
Also kämpfte ich mich weiter. Jeder Stapfschritt wurde zur Schinderei. Ich spürte, dass das Ende meiner Kräfte nicht mehr fern war. Außerdem sollte ich meinen Ansitzplatz mittlerweile längst erreicht haben – falls die Hahnen früh einfallen würden, wären meine ganzen Mühen vergebens gewesen.

Am Ziel

Doch dann – nach insgesamt fast drei Geh­stunden – zwängte ich mich endlich durch die niedrig­­­e Türöffnung des morschholzigen Stadls, wechselte mein verschwitztes Hemd und setzte mich erschöpft auf einen kaum kniehohen Steinhaufen, den ich hier schon im Vorjahr auf­geschichtet hatte.
Ohne das schwache Licht des Halbmondes wäre die Alm jetzt noch in tiefer Finsternis gelegen, denn noch war vom Ostlicht kein Hauch zu ­erahnen. So aber konnte ich doch schon deutliche Konturen erkennen. Halblinks und vor mir zogen flache bis mäßig steile, noch vollständig schneebedeckte, mit einzelnen schmächtigen Lärchen, wenigen christbaumgroßen Fichten und einigen niedrigen Latschenstauden bestockte Hänge hinauf zum büchsenschussentfernten Gratrücken. Diese Hänge waren von unzähligen flachen Mulden und undeutlichen Kanten durchzogen, sodass viele Flächen überriegelt waren. Jenseits des Grats standen abweisende Felswände gegen den sternfunkelnden Nachthimmel. Zu meiner Rechten breitete sich die weite Alm aus, und hinter mir reichte steiler, lichter Lärchenwald bis fast zu meinem Ansitzplatz herauf.

Sonnenaufgang im Gebirge - © Leif-Erik Jonas

© Leif-Erik Jonas

Unendliche Stille

Stille – große, weite, unendlich scheinende Stille umgab mich vorerst. Hier auf den flachen, ­rundlichen Bergrücken gelangt vom Talgrund kein Laut herauf – weder das Rauschen des im tief eingekerbten Tal dahinsprudelnden Gebirgsbaches noch gar irgendwelcher Lärm der fernen Zivilisatio­­­n.
Nach einer Weile – es dämmerte schon etwas – das erste, schläfrige Aufzwitschern einer Ringdrossel, dann wieder Stille. Plötzlich vernahm ich sausenden Schwingenschlag – und hernach wiede­­­r Stille, kein Faucher, kein Grugeln, nichts. War es eine Henne gewesen? Doch dann, ein scharfes Zischen, gefolgt von einer längeren Pause, dann wieder ein Zischen, wieder und wiede­­­r. Ich hob das Glas an die Augen, konnte den Balzenden aber zunächst nicht erschauen. Er musste sich in einer nicht einsehbaren Mulde – kaum hundert Meter links vor mir – aufhalten.
Doch schon bald darauf entdeckte ich im ahnen­den Morgendämmer mit freiem Auge einen schwarzen Fleck am Rand der Mulde – der Hahn! Er fauchte noch einige Male, senkte dann seinen blau schimmernden Stingel, plusterte ihn auf, ­begann zu grugeln und drehte sich dabei in alle Richtungen.

Birkhahn - © Leif-Erik Jonas

© Leif-Erik Jonas

Gereizter Hahn

Sicher ein Viertelstündlein balzte er selbst­vergessen vor sich hin. Als dann aber weder Henne noch Rivale ihm Gesellschaft leisten wollte, trippelte er ohne Eile weiter nach rechts, blies und rodelte zwischendurch immer wieder – so würde er bald meinen Blicken über eine undeu­­­­­­tliche Geländekante hinweg entschwinden. Ich wollte dieses faszinierende Schauspiel aber noch etwas länger genießen, also zischte ich zum Hahn hinauf. Der hatte das nicht überhört, drehte sich herum, reckte seinen Stingel, stieß sich dann vom Schneeboden ab, tat einen weiten Flattersprung und fauchte zornig. Ich antwortete – und mit einigen wilden Flattersprüngen kehrte der Hahn zum Balzplatz zurück und balzte dort wie verrückt! Da sich sein vermeintlicher Rivale aber nirgends blicken ließ und er sich mit diesem Feigling wohl nicht länger abgeben wollte, lief er dann wieder nach rechts und drohte, erneut zu verschwinden. Wieder reizte ich ihn – und jetzt war es mit seiner Geduld ­endgültig vorbei. Wild entschlossen kam er mit weiten Flatter­sprüngen, begleitet von scharfen Fauchern, direk­­­t auf mich zu und begann dann nur einen halben Schrotschuss entfernt, feurig zu grugeln.
Ich hoffte, dass er bis zum vollen Tageslicht bleibe­­­n würde, damit ich auf diese geringe ­Entfernung ein paar gute Fotos von ihm schießen konnte. Aber diesen Gefallen tat er mir dann doch nicht. Wie aus heiterem Himmel unterbrach er nach einer ganzen Weile sein Spiel, stieß sich vom Boden ab und flatterte über meinen Ansitzstadl davon. Bald aber hörte ich wieder sein Grugeln – und als ich mich etwas aus dem Fenster hinauslehnte und in die Wipfel der vom Gebirgswetter gezeichneten Bäume hinauf­schielen konnte, entdeckte ich ihn. Weit war er gar nicht davongestrichen, er war zwanzig Meter zu meiner Linken in einer dünnstämmigen Lärch­­­e aufgebaumt. Lange blieb er aber auch dort nicht, denn schon nach wenigen Minuten strich er endgültig in den Bergwald hinunter. Nur hin und wieder drang sein fernes Grugeln jetzt noch an mein Ohr.

Abstieg

Und weil der Balzmorgen wohl gelaufen war und mir die Kälte langsam in die Glieder kroch, packte ich meine Sachen zusammen und machte mich auf den Rückweg. Die aufgehende Sonne tauchte die zarte Bewölkung des Osthimmels in kitschiges Rosa, dann stieg sie in goldenen Farben­­­­ über die Gipfel.
Der Abstieg entlang meiner nächtlichen Stapfspur fiel zwar freilich wesentlich leichter als die Schinderei des Hinaufsteigens – aber kommod war es dennoch nicht, von einem hart gefrorenen Schneeloch ins nächste zu staksen. Ich ließ mir an diesem traumhaften Morgen aber dann auch Zeit, und so dauerte es letztlich zwei volle Stunden­­­­, bis ich wieder zu meinem Vehikel zurück­kehrte.