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„Wilde Medizin“

30. November 2023 -
„Wilde Medizin“ - © Martin Grasberger
© Martin Grasberger

Das über Generationen überlieferte Naturheilwissen gerät leider immer mehr in Vergessenheit. Vor Hunderten von Jahren wussten die Menschen allerlei Heilmittel nicht nur trefflich einzusetzen, sondern auch selbst herzustellen. Ein neues Buch holt diesen Schatz an die Oberfläche.

Wenn wir uns unwohl ­fühlen, uns verletzt oder einfach nur einen schlechten Tag hinter uns haben, greifen wir sehr oft zu ­medizinischen Präparaten, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, welche Ingredienzien sie enthalten und welche Nebenwirkungen sie zur Folge haben könnten. Die ­Einnahme von Aspirin, Novalgin & Co ist in unserer „modernen“ Gesellschaft bereits zur Normalität geworden – die Wenigsten sehen hierbei einen Anlass zur Selbstreflexion oder gar -kritik.
Früher, vor Hunderten von Jahren, wusste man zum Beispiel noch nichts über den hohen Gehalt ungesättigter Fettsäuren im Murmeltierfett oder die medizinische Wirkung der im Bibergeil enthaltenen Salicylsäure, und dennoch war es kein Geheimnis, dass dies positiv auf den menschlichen Organismus wirkt und verschiedenste Symptome lindern kann. Auch wenn einige Heilmittel, die früher in der Volksmedizin nichts ­Ungewöhnliches waren, heute für den einen oder anderen möglicherweise ­befremdlich wirken können, halten diese oft sogar wissenschaftlichen Unter­suchungen stand. Kurz: Was heute als wissenschaftlich gesichert gilt, war früher über Generationen überliefertes Heilwissen.
Während wir heute nach einem Bienenstich sofort ins Haus eilen, um Fenistil-Gel zu holen und aufzutragen, wissen nur noch wenige, dass die ­zwischen den Fingern zerriebenen und auf den Stich gelegten Spitzwegerichblätter den Juckreiz und die Schwellung lindern können. Ich selbst staunte nicht schlecht, als Barbara Hoflacher bei ihrem Besuch – wir schossen zahlreiche Bilder für das neue Buch „Wilde Medizin“, das soeben im Österr. Jagd- und Fischerei-Verlag erschienen ist – über einen Spitzwegerich im Bereich meiner Terrasse „stolperte“ und aus ihr prompt sämtliche Details zu dieser Heilpflanze heraussprudelten. Noch weitere Pflanzen mit Heil­potenzial ­fielen ihr in meinem Garten auf – und mein Wissen um die „Wilde Medizin“ ist seitdem um ein Vielfaches reicher geworden. Was der Unwissende als „Unkraut“ abqualifiziert, ist möglicherweise ein Segen für die menschliche Gesundheit. – Es ist ein großes Glück, dass es Menschen wie Barbara Hof­lacher gibt, die sich mit überliefertem Heil­wissen auseinandersetzen und dieses, untermauert von wissenschaftlichen Erkenntnissen, mit neuem Leben erfüllen. Hier ein paar Einblicke:

Vollverwertung schafft Vertrauen

Wildbret genießt seit einigen Jahren – Gott sei Dank – wieder einen sehr guten Ruf, nicht zuletzt deshalb, weil immer größerer Wert auf die Wildbrethygiene gelegt wird. Immer mehr ­Menschen erfreuen sich am hoch­wertigen Fleisch, das einen weit höheren Anteil an wertvollen ungesättigten Fettsäuren hat, gleichzeitig aber deutlich fett­ärmer und vitaminreicher ist als jenes von Nutztieren. Die Verwendung der Fette hat sich hingegen aber leider noch nicht durchgesetzt. Dabei haben gerade die Fette von Wildtieren enorme Vorteile für uns Menschen. Wie auch beim Wildbret enthalten sie wesentlich mehr ungesättigte Fettsäuren, und manche verfügen über zusätzliche Inhalts­stoffe, die wir uns zunutze ­machen können, wie etwa Corticoide in Murmeltier- und Dachsschmalz. Wiederum andere – Wildschweinschmalz zum Beispiel – sind für unseren ­Ernährungsplan besonders wertvoll. Anstatt Wildtierfette kostenpflichtig in der Tierkörperverwertung zu entsorgen, sollten sie unbedingt für die Kulinarik oder die Salben- und Seifenherstellung verwendet werden.

„Wilde Medizin“ - © Martin Grasberger

© Martin Grasberger

Hirschtalg statt Palmfett

Statt des ökologisch bedenklichen Palmfetts dient zum Beispiel Hirschtalg als heimischer Ersatz für die Seifensiederei. Wildschweinschmalz kann wunderbar anstelle von Palmfett oder anderer ­bedenklicher Frittierfette in der Küche verwendet werden.
Um den Wert von Wildfetten wieder in den Vordergrund zu rücken und damit die zusätz­liche Wertschöpfung der Jagd zu betonen, ist es lohnend, sich damit auf einer seriös fundierten Basis auseinanderzusetzen. Alte Erkenntnisse und Betrachtungsweisen können mit modernen wissenschaft­lichen Analysen abgeglichen werden, um die erworbenen Fähigkeiten und Kenntnisse für die ­Zukunft zu erhalten und weiter­zuentwickeln.

„Wilde Medizin“ - © Martin Grasberger

© Martin Grasberger

Wildfette nutzen

Zu den Vorteilen, die die Inhaltsstoffe der Fette bieten, kommen noch weitere Argumente, sie auch zu nutzen:

  • Sie sind regional – im Gegensatz zum ökologisch bedenklichen ­Palmfett.
  • Sie sind saisonal.
  • Sie liefern einen hohen Ertrag und können selbst gewonnen werden – im Gegensatz zu vielen Pflanzen­ölen, wie Leinöl oder Olivenöl, die die Wenigsten selbst zu Hause herstellen können.
  • Es bedarf keiner aufwendigen, ­teuren Gerätschaften. Eine einfache Küchenausrüstung, wie sie in der Regel in jedem Haushalt zu finden ist, reicht völlig aus.
  • Die Gewinnung geht schnell und einfach.

Ein Apotheker hat mir unlängst ­mitgeteilt: „Die Zeit der Tierfette ist ­vorbei, wir haben ja heute viel bessere pflanzliche Öle und Fette. Wozu sollte man also überhaupt noch Tierfette ­verwenden?“ Ich bin vom Gegenteil überzeugt und hoffe, auch andere für die Vorzüge der Tierfette begeistern zu können.
Wer kann schon sagen, wie lange uns noch Jojoba, Sesamöl, Sheabutter, Kokosöl usw. zur Verfügung stehen? Ist es wirklich nötig, Zutaten zu bevorzugen, die um die halbe Welt reisen müssen, damit wir sie verwenden ­können? Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah? Vor allem aber: Warum etwas so Wertvolles, wie Hirschtalg und Co, in den Müll werfen, wenn wir so heilsame Zubereitungen daraus zaubern können? Also: Holen wir das in Vergessenheit geratene ­Heilwissen unserer Vorfahren vor den Vorhang!

Beispiel Wildschwein

Jeder kennt das Wildschwein, doch nur wenige wissen, dass es über einen Geruchssinn verfügt, der jenem des Hundes ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen ist. In Österreich kommen jährlich etwa 50.000 Sauen zur Strecke, in Deutschland sogar fast eine Million. Diese äußerst soziale und ebenso ­intelligente Wildart ist sehr anpassungs­fähig und besiedelt sogar urbane ­Bereiche, wo letztlich Konflikte mit dem Menschen vorprogrammiert sind.

„Wilde Medizin“ - © Martin Grasberger

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Vielseitiges Wildschweinschmalz

Im Fett der Schwarzkittel verbirgt sich ein wahrer Schatz für Gesundheit, Wohlbefinden und Hochgenuss in der Kulinarik. In seiner Festigkeit und ­Zusammensetzung liegt es genau in der Mitte zwischen den öligen und hochungesättigten Fetten (wie Murmel­tier, Feldhase, Biber usw.) sowie den festen, gesättigten Talgen (wie Reh, Hirsch, Gams usw.).
Das Geheimnis liegt in der Zu­sammen­setzung der unterschied­lichen Fettsäuren. In Ernährungsempfehlungen für einen gesunden Fettverzehr ist immer wieder die Rede von den ­wertvollen ungesättigten und mehrfach ­ungesättigten Fettsäuren bzw. Omega-­3- und Omega-6-Fettsäuren.
Im All­gemeinen wird dabei auf wertvolle Pflanzenöle, wie Olivenöl und Sonnenblumenöl, verwiesen, während tierische Fette häufig als „ungesund“ dargestellt werden.
Die moderne Ernährungskunde empfiehlt für die Gesundheit der ­Konsumenten folgenden Fettverzehr: ein Drittel gesättigte Fettsäuren (zum Beispiel Butter, Butterschmalz oder Kokosöl), ein Drittel einfach ungesättigte Fettsäuren (zum Beipiel Olivenöl) und ein Drittel mehrfach ungesättigte Fettsäuren (zum Beispiel Sonnenblumenöl). Ebenso erstaunlich wie erfreulich ist daher die Tatsache, dass Wildschweinfett genau über jene Zusammen­setzung verfügt, die für eine gesunde Ernährung unerlässlich ist. Wie in der Grafik ersichtlich, besteht es ­nämlich zu 30,1 % aus gesättigten Fettsäuren (SFA), zu 32,2 % aus einfach ­ungesättigten Fettsäuren (MUFA) und zu 37,0 % aus mehrfach ungesättigten Fettsäuren (PUFA).
Für das Auslassen von Wildschweinschmalz eignen sich sowohl die ­Wasserbad- als auch die Pfannen­methode. Das Fett darf nur nicht zu heiß werden, kochen oder prasseln, wie man es von der Herstellung von Grammelschmalz kennt.
Das ausgelassene Fett wird durch ein sauberes Tuch ab­geseiht, die übrig gebliebenen Grammeln können in einer Pfanne weiter knusprig geröstet werden.
Ausgelassenes Wildschweinschmalz eignet sich hervorragend zum Kochen und Braten, da es neben den wertvollen ungesättigten Fett­säuren noch genügend hitzestabile ­gesättigte Fettsäuren enthält. Nicht nur zum Anbraten von Fleisch oder Wildbret eignet sich das schmack-hafte, feine, nach Nuss und Trüffel ­schmeckende Fett; auch Wildschwein-Grammelschmalz und süße „Schmalznüsse“ sind ein wahrer Hochgenuss.

Verwendung in der Volksmedizin

Eine sehr alte und immer noch ­gebräuchliche Anwendung ist der Schmalzwickel bei Husten- und Lungen­leiden. Aber auch zur all­gemeinen Hautpflege, als entzündungswidrige Salbe (mit Eibischwurzel – ­Althaea officinalis – Warmmazerat) oder gegen das Brennen der Hämorrhoiden (mit Löwenmaul – Antirrhinum linaria – Warmmazerat) oder bei Frostbeulen und Erfrierungen leistet es gute Dienste. Wildschweinschmalz eignet sich hervorragend als Salbenbasis für Ringel­blumen-, Beinwell- oder ­Wegerichsalbe, um nur einige zu ­nennen, und benötigt nicht unbedingt weitere Zutaten, da es eine sehr ­angenehme Konsistenz hat und schnell in die Haut einzieht.
Wildschweinschmalz wirkt weder kühlend noch wärmend und ist daher universell einsetzbar. Da es unserer menschlichen Fettstruktur am ähnlichsten ist, ist es auch besonders ­„dermakompatibel“, was so viel heißt wie besonders hautverträglich.