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Berghirsche: Herbstliche Jagd – Buchauszug

28. August 2024 -
Berghirsche - Buchauszug - © Gunther Gressmann
© Gunther Gressmann

Begleiten Sie einen Jäger auf seiner nächtlichen Suche nach einem Berghirsch in den Alpen. Erleben Sie die Spannung und die Herausforderung der herbstlichen Jagd in diesem packenden Buchauszug.

Oben am Graukogel meldet die ganze Nacht ein Hirsch, und hier in der Hütte beim Schwarzmoos hat einer deshalb nur wenig Schlaf gefunden. Auch nachdem die ­Petroleumlampe schon lange gelöscht war, tritt er immer wieder vor den einfach gezimmerten Blockbau, um besser zu hören – und auch, um ganz sicherzugehen, dass der Hirsch noch da ist. Derweil kühlt der eine Raum mit Pritsche, Tisch und Bank immer mehr aus, denn der kleine Herd gibt längst keine Wärme mehr ab. Die Bergluft ist jetzt, Ende September, schon frisch und fast frostig. Der alten Tiroler Bracke passt das alles gar nicht, sie verfolgt das Geschehen auf ihrem löchrigen Wetterfleck mit wenig Verständnis, dreht sich im Kreis, legt sich wieder hin und streckt ihren Kopf, beinahe vorwurfsvoll, flach auf den abgewetzten Bretterboden. Noch lange sinniert der Jäger, wie diesem Hirsch bei­zukommen wäre. Mit dem Ruf braucht er es hier nicht zu versuchen, und Angehen ist in dem ­unübersichtlichen Gelände mit all den Gräben, Runsen und Erlendickungen auch ziemlich hoffnungslos. Von der Gegenseite würde man da und dort vielleicht etwas ausmachen, aber ist man selber in dem Hang, dann fehlt jede Übersicht. Die Wahrscheinlichkeit, das Wild zu vergrämen, ist viel größer, als dass man unbemerkt herankommt. Zudem würde sich jede Begegnung auf kürzeste Entfernung abspielen ... Bis zum Morgen hat sich die Anspannung bei Hund und Herr ein wenig gelegt. Es gibt einen Plan, und nach einem Schluck Tee steigen Hoffnung und ­Aussicht auf Erfolg – auch, weil der Wind den beiden wieder einige Trenzer von hoch oben zuträgt. Noch steht ein Sternenhimmel über den Graten und ­Kämmen, doch der Jäger weiß, dass der Hirsch bei Tagesanbruch mit seinem Kahlwild über das Brunntal hinunter in den Mooswald ziehen wird. Dort gibt es eine breite Rinne, die immer wieder von der Lawine ausgeräumt wird. Hier führt der Wechsel durch, und dort müssen die beiden noch vor dem Grauwerden oben sein. Bei der Lawinengasse an­gekommen, fällt es zunächst gar nicht leicht, den richtigen Platz zu finden. Schon wird es hell, der Wechsel im Brunntal ist leicht zu erkennen, doch talseitig gibt es keinen Fleck mit guter Einsicht. Oberhalb ist der Wind um diese Zeit problematisch. Da, endlich sticht ein Felskopf ins Auge, er ragt ­seitlich aus dem Bergwald, und von da sollte man gute Aussicht auf den Grünerlenhang haben. Nun wird’s Zeit, dass hier Ruhe einkehrt. Doch leider ist nun auch der Hirsch ruhig – kein Ton mehr ...
In den mit Flechten behangenen Ästen der Bergfichten turnen Goldhähnchen und Haubenmeisen, die ersten Strahlen der Morgensonne klettern über die Gipfel der gegenüberliegenden Talseite. Nur hier im Brunntal wehrt der Graukogel noch standhaft jeden Morgenschimmer. Für solche Gedanken hat dort jetzt jemand wenig Sinn. Mit Spannung, aber schon ein wenig sinkender Zuversicht sind hier noch alle Sinne auf den Rotwildwechsel und jene Erlenhänge gerichtet, aus denen der schmale Pfad hinunter in den Hochwald führt. Kommt das Wild noch oder haben sie heute einen anderen Weg ­genommen? Da endlich, wie eine Erlösung, ein Steindln. Bewegen sich die Erlstauden? War da ein roter Fleck? Ein paar Lauscher verraten das erste Tier, gemütlich äst es da und dort, doch bevor es den offenen Lawinenstrich quert, bleibt die alte Tante stehen und verhofft lange. Sie bekommt keinen Wind und tritt nun schließlich aus den Erlen ins Freie. Dahinter folgen Kalb und Schmaltier. Nur: Wo ist der Hirsch? Das Kahlwild ist schon wieder im Mooswald untergetaucht. Doch nun bewegen sich die Erlen noch einmal – und jetzt tauchen zwei starke, fast schwarze Geweihstangen mit blitzweißen Enden im grünen Dickicht auf. Breiter Äser, Haupt und Träger fast waagrecht, starker Vorschlag – achtsam und doch beinah gelassen setzt der alte Berghirsch in dem steilen Gelände Schritt für Schritt und zieht nun stichgerad herein ins Brunntal ...