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Der Pfad der Hirsche und die Fährte des Bären

6. März 2024 -
Jagd auf Hokkaido - © Jürgen Schmücking
© Jürgen Schmücking

Andere Länder, andere Sitten. Das gilt auch für die Jagd. Mit einem erfahrenen Jäger in Hokkaido, Japans nördlichster Insel, unterwegs, kann man viel über die Jagd in Japan lernen.

Eine Klarstellung vorab. Ich bin kein erfahrener Jäger. Meine Jagdprüfung im Bezirk Schwaz in Tirol ist etwa zwei Jahre her. Seither begleite ich Gastronomen und befreundete Winzer und Landwirte auf verschiedenen Jagden in Niederösterreich, Oberösterreich, in Vorarlberg und in Tirol. Dort lebe ich. In Tirol. Ich bin Journalist und Fotograf in den Bereichen Gastronomie, Kulinarik und Landwirtschaft. Warum ausgerechnet Japan? Mein Trip nach Hokkaido war nicht als Jagdreise geplant. Ich bin von der kulinarischen Kultur Japans schon lange beeindruckt und bereise das Land seit Jahren. Ich schreibe auch immer wieder über Japan. Über die guten ­Restaurants und die Küche in Tokio oder Kyoto, über den Fischmarkt, über Brauereien, in denen Sake, der Reiswein, gebraut wird, und über die Destillerien, die wunderbaren Whisky brennen.
Für Jänner hatte ich einen mehrwöchigen Aufenthalt im kalten Norden Japans geplant, um mehr über die Kultur der Ainu, über die Ezo-Hirsche und über die Algenfarmen an den Küsten Hokkaidos zu erfahren. Dabei lernte ich eine Gruppe von Jägerinnen und Jägern kennen, die mir von Hirsch- und Bären­fleisch erzählten. Von ihrer Tradition der Jagd und von den Problemen, mit denen die Jäger- und Bauernschaft in Hokkaido konfrontiert sind. Ihre Einladung, sie zu begleiten, war mir eine Ehre. Danke an dieser Stelle an Noriyuki Akitaya, meinen Guide. Für die Bereitschaft, sein Wissen weiter­zugeben. Für seine Geduld, meine ­Fragen zu beantworten, mir die Fährten zu zeigen. Und dafür, dass er auf mich gewartet hat. Immer und immer wieder.

Jagd auf Hokkaido - © Jürgen Schmücking
© Jürgen Schmücking
Jagd auf Hokkaido - © Jürgen Schmücking
© Jürgen Schmücking

Regional & traditionell

Beginnen wir mit der Landschaft. ­Hokkaido ist die nördlichste Insel des Landes und gilt als der kalte Norden Japans. Im Jänner ist die Insel tief ­verschneit und klirrend kalt. Und von wenigen Menschen besiedelt. Ein krasser Gegensatz zur pulsierenden Hauptstadt Tokio. Es gibt im Süden Hokkaidos, nahe der Stadt Sapporo, in der kleinen Gemeinde Yoichi, eine Reihe von Weinbaubetrieben, die respektable Weine keltern, und eine Handvoll ­Restaurants, die für eine neue Art der Gastronomie stehen. Einfachheit, Regionalität, traditionelle Rezepte. Auch unter Berücksichtigung von Wild.
Unser Jagdgebiet liegt aber etwa dreihundert Kilometer östlich von ­Sapporo. Das Revier kann am ehesten als hügelig ­beschrieben werden. Vielleicht der eine oder andere Hang, der etwas höher und etwas steiler ist.
Im Grunde aber sanft hügelig. Dichter Wald und weitläufige freie Flächen wechseln einander ab. Die Schneedecke ist einen knappen Meter dick und durch die Kälte so kompakt, dass man eigentlich gut darauf gehen kann. ­Eigentlich. Denn hin und wieder versinkt man dann doch bis weit übers Knie im Schnee. Ein vernünftiges Vorankommen ist nur mit Schneeschuhen möglich. Und das ist, wenn man es nicht gewohnt ist, herausfordernd und vor allem kräfteraubend.
Die Hirsch-Birsch ins Zentrum Hokkaidos ist eine der schönsten und aufregendsten Wanderungen seit Langem. Wir sind etwa drei Stunden landeinwärts marschiert, um Hirsche zu sehen. Noriyuki kennt die Wege der Ezo-Hirsche, eine autochthone Unterart des Sikawildes. Wir sichten jede Menge Hinweise; Losung, Verbissspuren an Sträuchern und jungen Bäumen. Aber keine Hirsche. Ich spüre eine leichte Erschöpfung und frage Noriyuki, ob es in der Nähe eine Jagdhütte oder einen Hochstand gebe. Irgendwas zum Ausrasten, Jausnen und Trockenwerden. Es war ein Moment sehr plötzlicher ­Erkenntnis. Er brauchte gar nicht zu antworten. An seinen Augen konnte ich ablesen, dass es keine Jagdhütte, keinen Hochstand und auch keine Bank geben würde. Überhaupt keine Reviereinrichtung. Alles Dinge, die der japanischen Jagdkultur völlig fremd sind. Jedenfalls der jagdlichen Tradition Hokkaidos.
Er wusste überhaupt nicht, wovon ich spreche. Am Festland könnte es durchaus auch anders sein. Es war jedenfalls der Beginn eines spannenden Gesprächs über die Unterschiede und verschiedenen Zugänge zur Jagd.
Die Jäger Hokkaidos gehen so lange, bis sie die Hirsche sehen. Sie kennen die Futterplätze und die Wege der Rudel.

Hilfreicher Ratgeber zum Thema Jagdrecht: Voraussetzungen für das Jagdausübungsrecht

Was wir „Ansitz“ nennen, nennen sie „warten“. Und dafür sitzen sie auf ­keinem Hochstand, sondern hinter einem Baum am gegenüberliegenden Hügel. Das erste Mal, dass wir uns zum „Warten“ in den Schnee gesetzt haben, war nach einem fünfstündigen Marsch. In diesen fünf Stunden sind wir keiner Menschenseele, überhaupt keinem Hinweis auf Zivilisation begegnet. „Kugelfang“ hat hier nicht annähernd die gleiche Bedeutung wie in den ­Revieren Österreichs.
Jedenfalls hatten wir am Rückweg reichlich Zeit, um herauszufinden, wo die Unterschiede zwischen Japan und Österreich in Sachen Jagd liegen. Wir begannen das Gespräch mit der Klärung von Grundlegendem. Ist das Recht zu jagen, so wie bei uns, an den Besitz von Grund und Boden geknüpft? Wie sieht die Ausbildung von Jägerinnen und ­Jägern aus? Wer legt die Abschuss­quoten fest? Welcher Art von Hirsch stellen wir eigentlich nach? Und gibt es so etwas wie den Schüsseltrieb?
Ich muss zugeben, ich war über die Antworten sehr erstaunt.

Jagd auf Hokkaido - © Jürgen Schmücking
© Jürgen Schmücking
Jagd auf Hokkaido - © Jürgen Schmücking
© Jürgen Schmücking

Kulturelle Unterschiede

In der zweiten Hälfte des 19. Jahr­hunderts entwickelten sich in Japan zwei Stränge der Jagd. Zum einen war die Jagd — ähnlich wie auch bei uns — ein Privileg des Adels. Gleichzeitig war die Bejagung zum Schutz der Acker­flächen von großer Bedeutung, wodurch sich die Landbevölkerung das Recht zur Jagd erwirkte. Das ging sogar so weit, dass die Edo-Regierung den Landwirten Schusswaffen leihweise zur Verfügung stellte. Gegen Ende der Edo-Periode waren in Japan ungefähr 1,5 Millionen Gewehre im Besitz von Bauern. Das hat sich allerdings radikal verändert. Heute ist der Waffenbesitz – auch für Jägerinnen und Jäger – an Prüfungen und andere Bedingungen geknüpft und einigermaßen komplex. So kann man etwa nach der ersten Jagdprüfung ­(Lizenz 1) zwar eine Flinte, nicht aber Büchse anschaffen. Der Erwerb einer Büchse mit Zieloptik ist erst ab Lizenz 2 möglich. Außerdem muss man dafür 10 Jahre Erfahrung mit einer Flinte nachweisen. Bei uns, wo viele Jungjäger noch am Ausstellungstag der Jagdkarte zum Büchsenmacher gehen und ein Gewehr kaufen, fast unvorstellbar. ­Noriyuki ist lange genug Jäger, um mit der eigenen Büchse unterwegs zu sein. Aber auch er hat lange Sikawild mit Flintenlaufgeschossen erlegt.
Die Jagd selbst ist in Japan nicht flächen­gebunden. Jeder, der eine gültige Lizenz hat, darf frei jagen. Oder anders ­formuliert: In den meisten Natur- und Waldgebieten darf frei gejagt werden. Klarerweise gibt es Ausnahmen. Nicht unähnlich jenen Flächen, auf denen auch bei uns die Jagd ruht. Also Parkanlagen, Friedhöfe, eingezäunte landwirtschaftliche Nutzflächen sowie Vogel- oder Tierschutzzonen. Diese Sperrgebiete werden laufend erfasst und das Kartenmaterial der Jägerschaft via App zur Verfügung gestellt. Von Behörden festgelegte Quoten gibt es nicht, in Hokkaido gilt die einfache Faustregel. Pro Tag pro Jäger ein Hirsch. Auch das ist eine Regelung, die erst einmal sickern muss. Vor allem, weil sie mit modernem ­Bestandesmanagement, wie es hierzulande praktiziert wird, schwer unter einen Hut zu bringen ist. Eine Ausnahme zur freien Jagd bilden übrigens auch einige Jagdreviere in Hokkaido. Hier sind die lokalen Behörden dran, einige Reviere zu jagdtouristischen ­Zielen zu entwickeln. Mit einem Tagespass von umgerechnet € 150–200,– und einem Guide ist man dabei. Der Guide muss selbst Jäger mit entsprechender Lizenz sein und übernimmt ähnliche Aufgaben wie bei uns die Birschführer.
Der Weg zurück durch die Schneelandschaft war ausgesprochen interessant: zwei junge Füchse, die im Schnee spielten, Kraniche, die über den blauen Himmel zogen, und ein Schneehase, der nur aufgrund einer schnellen Schneestaubwolke sichtbar war. Außerdem die frische Fährte eines Braunbären. Nori erzählt mir, dass der Braunbär Teil der kulinarischen Kultur der Ainu, der Ureinwohner Hokkaidos sei. Was mich bei der Sache leicht unrund machte, war die Vorstellung, dass ich mit großer Wahrscheinlichkeit ebenfalls Teil der kulinarischen Tradition des Bären bin. Egal. Ich fühle mich an Noriyukis Seite sicher und gut aufgehoben.
Dazu ein spannendes Gespräch über unterschiedliche Zugänge zur Jagd.
An dieser Stelle sei noch gesagt, dass Noriyuki sehr verblüfft meinen ­Erzählungen vom Schüsseltrieb, vom Jagdhornblasen und von den ver­schiedenen Brüchen gelauscht hat.
Ich habe sein Interesse geweckt. Irgend­wann wird er nach Österreich kommen und bei einer Treibjagd dabei sein. Oder bei mir daheim in Tirol bei einer Gamsjagd. Irgendwie muss ich mich ja noch für den zehnstündigen Hatscher revanchieren.