Einstangler
Jeder Ansitz und jede Beute sind einzigartig. Es muss nicht immer ein starker Altbock sein, auch ein Jahrlingsböcklein kann durchaus seinen Reiz haben.
Oberhalb meiner Jagdhütte erstreckt sich eine etwa schrotschussbreite und dreimal so lange Bergmahd, die nach oben hin immer steiler wird. An deren unterem Rand verläuft ein grasiger Almweg, neben dem unter einer dicht beasteten Solitärfichte ein geschlossener Bodensitz steht. Auf der von starkstämmigen Lärchen und alten Fichten bewachsenen Geländekante zwischen Bergmahd und Schlucht befindet sich eine Salzlecke, die vor allem von Reh und Gams gerne besucht wird. Hier oben zog ein interessanter Jahrlingsbock seine Fährte. Seine linke Stange war etwa halb lauscherhoch und teilte sich auf halber Höhe. Das hintere Ende war kaum fingergliedlang, das vordere maß beinahe das Dreifache davon. Die rechte Stange hingegen fehlte fast völlig, sodass man von einem „Einstangler“ sprechen konnte. Das Wissen um seine Existenz verdankte ich einzig und allein der Wildkamera.
Dieses Böcklein reizte mich. Was ich aber nicht ahnte, war, dass es mir weit mehr Geduld, Ausdauer und Kopfarbeit abverlangen würde, als man es bei einem mit allen Wassern gewaschenen Altbock zu erwarten hätte. Im Laufe der Wochen und Monate sollte ich seinetwegen ein Meer an Gedanken spinnen, Pläne schmieden, manche in die Tat umsetzen, andere verwerfen – und mehr als einmal würde ich kaum noch recht daran glauben wollen, den Bock jemals passend vor die Büchse zu bekommen.
Geduld ist eine Tugend
Es war ein kühler Junimorgen, als ich erstmals den Bodensitz bezog. Vorerst tat sich wenig. Eine Stunde war vergangen, und es war schon längst helles Tageslicht, da trollte von links ein feuerrotes Reh zwischen rauschuppigen Lärchenstämmen heran. Auf die Entfernung von kaum einem Schrotschuss sah man schon mit freiem Auge, dass es ein besserer Bock war, und so vermutete ich den Platzbock. Der Blick durchs Glas bestätigte meine Vermutung. Der Bock querte ohne Hast die Bergmahd, zupfte hie und da am saftigen Wiesengrün. Später zog entlang der Kante zwischen Bergmahd und Schlucht ein Gamsbock den Hang hinauf und hin zum Salz. Fünf, sechs Jahre mochte er auf seinem Ziemer haben, mehr aber nicht. Eine geschlagene Dreiviertelstunde leckte er am Salz. Gar lange blieb ich dann auch nicht mehr und ging zur Jagdhütte hinunter.
Von den folgenden drei Ansitzen auf den Einstangenjahrling gibt es nicht allzu viel zu erzählen. Das Wetter zeigte sich wenig sommerlich. Die Temperaturen lagen nur wenig über dem Gefrierpunkt. Kalter, böiger Wind rauschte durch die Wipfel der alten Bergbäume, und Graupelschauer gingen hernieder. Dieses Wetter missfiel dem Wild ganz offensichtlich, der Anblick war mager und flüchtig.
Zufall?
Bald darauf folgte eine Hitzephase. Ich rechnete mir aus, dass auch bei diesem Wetter das Wild wohl eher kaum auf den Läufen sein würde. Und doch wäre mir der Einstangler in diesen Tagen durch puren Zufall um ein Haar zu Beute geworden, als ich von der Jagdhütte talwärts fuhr. Kaum mehr als hundert Meter unterhalb der Jagdhütte sprang ein Reh neben dem Auto aus dem hohen, braun gebrannten Gras. Ich hielt den Wagen an – und das Reh verhoffte halb schrotschussentfernt. Es war der Einstangler! Brettlbreit stand er dort, tat keinen Muckser und beäugte mich. Nur wenige Sekunden später sprang er ab. Ich birschte ihm hinterher, doch erhielt ich keine Schussgelegenheit mehr – und ehrlich gesagt war ich gar nicht gram darum, denn so hätte ich mir die Erlegung dieses Böckleins wahrlich nicht vorgestellt.
Der Hüttenbock
Zu Beginn der zweiten Juliwoche ging die Hitze zu Ende. Die nächsten Ansitze brachten zwar oft guten Anblick, aber vom Einstangler fehlte jede Spur. Erst als die Rehbrunft schon begonnen hatte, wurde der begehrte Bock wieder einmal von gleich zwei Wildkameras erfasst. Die eine Kamera war jene an der Bergmahd, die andere hatte ich wenige Tage zuvor nur einen Schrotschuss hinter der Jagdhütte aufgehängt, weil ich dort frische Plätz- und Fegestellen gefunden hatte. Und ich wollte aus purer Neugier herausfinden, welcher Rehbock denn da in unmittelbarer Nähe der Hütte seine Fährte zog. So zeigte sich, dass der Hüttenbock der Einstangler war!
Wallende Nebel hüllen das Gebirge in ihren endlos scheinenden Graudunst, und immer wieder prasseln heftige Regenschauer hernieder. Die Rehbrunft geht trotzdem langsam ihrer heißen Phase entgegen.
Ein Jägerleben
Der Juli neigt sich nun schon seinem Ende entgegen. Die Hundstage haben begonnen, das Wetter jedoch zeigt sich wenig hochsommerlich. Nur gelegentlich blinzelt die Sonne durchs dichte Gewölk, die Temperaturen schaffen es mit Mühe in den zweistelligen Bereich, wallende Nebel hüllen das Gebirge in ihren endlos scheinenden Graudunst, und immer wieder prasseln heftige Regenschauer hernieder. Die Rehbrunft geht trotzdem langsam ihrer heißen Phase entgegen. Noch scheinen zwar erst die wenigsten Geißen brunftig zu sein, aber die Böcke sind auf den Läufen und kommen zahlreich in Anblick.
Es ist später Nachmittag, als ich die Hüttentür hinter mir verschließe, den viertelstündigen Steigweg hinauf zur Bergmahd unter meine Schuhsohlen nehme und den Bodensitz beziehe. Alle paar Minuten schaue ich auch zum hinteren Fenster hinaus. Reichlich eine Stunde ist vergangen, da entdecke ich ein Reh, das am unteren Rand des Moors entlangzieht. Der Blick durchs Glas zeigt einen lauscherhohen Bock – und so kann es mein Einstangler keinesfalls sein. Ich richte das Spektiv ein und erkenne einen jungen, schwachen Sechser.
Langsam, aber sicher hüllt der Gamshüter das Bergland in immer dichteres Grauweiß. Auch hält die Dämmerung an diesem trüben Abend früh Einzug, und als der Nebel die Sicht schließlich auf Schrotschussentfernung einschränkt, gehe ich zur Jagdhütte hinunter. Die Hütte ist ausgekühlt, und so entfache ich im Kamin ein prasselndes Feuer, die Lärchenäste knacken vor sich hin, bald ist es wohlig warm in dem kleinen, gemütlichen Raum, und wieder einmal bin ich froh und dankbar, die Herrlichkeit des Jägerlebens hier ungestört und in vollen Zügen auskosten zu können.
Einzig das Wetter macht mir etwas Kopfzerbrechen, denn erfahrungsgemäß verzieht sich Nebel im Gebirge während der Nachtstunden meist nicht, sondern erst die Sonnenwärme des neuen Tages vermag ihn aufzulösen. Dennoch stelle ich den Wecker auf 3.30 Uhr – und als ich dann in frühmorgendlicher Kühle vor die Hütte trete, funkeln am nahezu wolkenlosen Firmament unzählige Sterne.
Was fiept denn da?
Nach einem belebenden Kaffee steige ich wieder zur Bergmahd hinauf. Bis ich mich im Sitz eingerichtet habe, ist der graudämmerige Himmel zwar schon wieder wolkenverhangen, aber der Nebel bleibt weitgehend aus – nur vereinzelte Schwaden treiben die Hänge entlang und wallen um ferne Gipfel. Allmählich verdrängt fahles Tageslicht die nächtliche Finsternis, ein kurzer, aber heftiger Regenschauer geht hernieder, und erste Bergvögel melden sich verhalten zu Wort.
Ein Stündlein mag schon vergangen sein – noch immer lässt das dunstig matte Licht es nicht so recht Tag werden –, da zieht ein Reh übers Moor. Der Blick durchs Glas zeigt den Sechser vom Vorabend. Genau wie gestern fegt er neben der Suhle und setzt seinen Weg dann eilig Richtung Jagdhütte fort – er scheint etwas Bestimmtes im Sinn zu haben, etwas im Schilde zu führen. Eine Viertelstunde später lässt mich plötzlich ein zaghaftes Rehfiepen aufhorchen. Der Ton kommt von rechts, irgendwo aus dem Wald unterhalb der Salzlecke. Immer wieder fiept das Stück, immer näher scheint es zu kommen – ich rechne jeden Augenblick mit Anblick. Das Stück wird zwar – so vermute ich jedenfalls – eine Geiß sein, aber vielleicht folgt ja ein Bock! Und falls der Platzbock wider Erwarten gerade nicht in der Nähe sein sollte, dann könnte es mein so lange gesuchter Jahrling sein. Die Spannung steigt ins Unermessliche!
Reges Treiben
Schon leuchtet es im rechten, unteren Wieseneck rot herauf. Zwei Rehe wechseln im flotten Troll heran – also wohl ein Bock, der eine Geiß treibt. Bis ich das Glas an den Augen habe, ist das erste Stück schon wieder von einer flachen Rinne überriegelt. Das zweite ist dann auch wirklich ein Bock, aber weder der erwartete Platzbock noch der erhoffte Einstangler, sondern wieder der junge Sechser. Jetzt wird mir klar, warum er vorhin gar so hastig unterwegs gewesen ist.
Schon kommt das erste Reh halbflüchtig aus der Rinne heraus. Wahrhaftig, es ist der Einstangler! Während ich die Bockbüchsflinte in Anschlag bringe, geht die Verfolgungsjagd weiter – stichgerade von mir fort die Bergmahd hinauf. Das Jahrlingsböcklein erklimmt mit entkräftet wirkenden Sprüngen eine kurze Steilpartie. Der Sechser verhofft vielleicht zehn Schritt darunter und sichert talwärts – der Einstangler tut es ihm an der oberen Kante des Steilhanges gleich und zeigt mir seine Breitseite. Das Fadenkreuz fasst das Blatt des kaum hundert Meter entfernt stehenden Böckleins, und nur einen Herzschlag später peitscht der Schuss hart über die Bergmahd. Wie vom Blitz getroffen bricht der Einstangler zusammen und rutscht den Hang herunter, bis er nach wenigen Bergstocklängen in einer nicht einsehbaren Mulde liegen bleibt.
Etwas später steige ich dann zu meiner so kostbaren Beute hinauf. Die rechte Stange ist eigentlich so wie erwartet – und links hat der Einstangler einen winzig kleinen Knopf. Die Stärke der Rosenstöcke passt nur allzu gut dazu, denn der linke ist weniger als halb so dick wie der rechte.