Fast schon ein Hirsch
Von Testosteron getriebene und selten stillstehende Böcke in den Weiten Kasachstans. Und dann kommt „Big Papa“! – Wird der Autor sich den Riesen zur Beute machen können?
Das ist ja fast schon ein Hirsch!“, entfährt es Onno viel zu laut, als er sein Fernglas ansetzt. Im selben Moment sehe ich ebenfalls und auch ohne Glas, dass der gerade austretende Bock ein richtig kapitaler ist. Dabei sind wir gerade zur ersten Abendbirsch aufgebrochen, und ich habe mich zunächst nur auf Wildbeobachtungen und das Kennenlernen des Reviers eingestellt. Gepackt vom Bockfieber überspringe ich den Teil mit dem Fernglas und greife sofort zur Büchse. Den Profi neben mir brauche ich nicht, um zu erkennen, was wir da in Anblick haben. Starker Träger, kräftiger Wildkörper und massige Stangen mit mindestens acht Enden; ob Europäer oder Sibirer – der Bock passt.
Besonderer Reiz
Eine Jagd auf Sibirisches Rehwild stellte für mich schon immer einen ganz besonderen Reiz dar. Die starke Ähnlichkeit zu unserem heimischen Rehwild, verbunden mit der unbekannten, sibirischen Kultur im fernen Kasachstan, kann nur Großartiges versprechen. Als sich die Möglichkeit ergab, schloss ich mich also kurzerhand zwei Jagdgruppen an, um gemeinsam im Norden des Landes, in der Provinz Kustanai, auf Sibirische Böcke zu weidwerken. Dieses Gebiet ist neben dem russischen Kurgan bekannt für seinen Reichtum an Rehwild. Zwar kann man die Sibirer in ganz Kasachstan und fast allen asiatischen Jagdländern antreffen, doch nur in diesen beiden Gebieten, welche direkt aneinandergrenzen, wachsen sie zu besonders starken Trophäenträgern heran. Die Bestandesdichte in der Kustanai ist ebenfalls hoch, sodass es zur richtigen Zeit bei jedem Birschgang meist eine Chance gibt, einen guten Bock zu erlegen – erklären zumindest die Berufsjäger. Während die eine Gruppe nördlich der Stadt Taldy vom traditionellen Jurtencamp aus jagt, ist die andere Gruppe etwas östlicher direkt am Grenzposten zum Kurgan um die Stadt Novostroyka. Ich wollte beide Camps besuchen und vereinbarte mit den Revierleitern, dass ich nach drei Tagen vom Jurtencamp ins etwa 80 km weiter östlich gelegene Grenzcamp mit festen Wohnhäusern wechseln durfte.
Eiskalter Wind
Noch vor Sonnenaufgang bestiegen wir am ersten Tag nach einem üppigen Frühstück im Jurtencamp die Geländewagen. Kaum waren wir vom Hof, spürte ich schon den eiskalten Wind. Für diese Jahreszeit war es außergewöhnlich kalt, und die teils lange Fahrt auf dem offenen Geländewagen zum Jagdgebiet wirkte noch länger, als sie eigentlich war. Normalerweise herrschen Ende August, Anfang September angenehme 20–25 °C, an heißen Tagen bis teilweise 30 °C. Doch nicht in unserem Fall: Wenn das Thermometer nachmittags 15 °C anzeigte, war das schon eine Wonne. Einen Vorteil hatte das kühle Wetter jedoch: Das Wild war beinahe den ganzen Tag auf den Läufen und, wir konnten lange in den Tag hinein birschen.
Nach nur wenigen Hundert Metern außerhalb des Camps kam uns auch bereits das erste Rehwild in Anblick. Ein schwach veranlagter Jahrling hatte uns mitbekommen. Wir hielten für ein paar Fotos kurz an und setzten die Fahrt fort. Wenig später traute ich meine Augen kaum: Fahrer Oleg lenkte den rostigen Lada vom Weg ab und steuerte querfeldein mitten durch die Haferfelder. Das gäbe bei uns eine größere Auseinandersetzung mit den Landwirten – hier anscheinend nicht. Wenn ich nicht wüsste, dass Oleg sich hier bestens auskennt, könnte man meinen, er hat einfach pure Freude daran, frische Autospuren durch den Hafer zu ziehen. Mein Berufsjäger Lisien saß neben mir auf den am Kofferraum angeschweißten Anbau des Ladas und sah jedes Stück Rehwild aus noch so großer Entfernung. Da sich die Schussdistanzen auf den weiten Feldern normalerweise auf mehrere Hundert Meter belaufen, habe ich für diese Reise extra meine .300 Win. Mag. mitgenommen. Doch die Stücke, welche Lisien ausmachte, waren deutlich außerhalb meines möglichen Schussbereichs, und somit navigierte uns Oleg in ein Gebiet mit mehr Deckungsmöglichkeiten.
Als wir anhielten, um die Gegend abzuglasen, vernahmen wir den Sprengfiep einer Geiß. Sofort setzte Jagdfieber ein, und wir versuchten, den Ruf genauer zu lokalisieren. Es schien, als trieb ein Bock unmittelbar neben uns im Birkengehölz. Ich stieg vom Wagen herunter und gab Lisien und Oleg das Zeichen zu warten. Vorsichtig birschte ich über eine Kuppe, um besser in den Bestand blicken zu können. Ein Schmalreh zog vor mir vertraut in die Dickung. Nun wusste ich zumindest, dass das Rehwild mich noch nicht entdeckt hatte, und entschied, einen Moment zu warten.
Braver Sechser
Plötzlich zogen zwei Stücke kurz hintereinander durch eine Schneise, und ich konnte einen Blick auf den Bock erhaschen. Ein braver Sechser mit starker Perlung. In einer Bewegung nahm ich die Büchse von meinem Rücken und ging kniend in Anschlag. Die Geiß trat, bedrängt vom Bock, auf eine Wiese aus. Ein kurzer Laut mit dem Blatter ließ den Hochzeiter seine Holde vor sich für einen Moment vergessen. Er verhoffte, sicherte in alle Richtungen, und ich erlegte meinen ersten Sibirischen Rehbock.
Am dritten Tag wechselte ich wie vereinbart die Camps und machte mich auf den Weg Richtung Novostroyka zur anderen Jagdgruppe. Es war eine wunderbare Autofahrt durch ewig lange und in voller Blüte stehender Sonnenblumenfelder. Im Camp angekommen, sah ich bereits, dass die Jagdgruppe kräftiges Weidmannsheil hatte, denn die Trophäen lagen aufgereiht nebeneinander, um in der Sonne zu bleichen. Wir begrüßten uns herzlich, und ich bekam zu jedem Bock eine spannende Jagdgeschichte erzählt. Nach einer ausgiebigen Mittagspause brachen wir zur Abendbirsch auf.
Big Papa!
Heute begleitet mich mein Jagdfreund Onno. Er hat selbst bereits drei Rehböcke hier erlegt. Mit einem am
Dach aufgeschnittenen, alten UAZ-Bus fahren wir los. Der Komfort ist im Vergleich zum Lada unwesentlich besser, aber die etwas höhere Sitzposition ist optimal, um die weiten Felder einzusehen. Interessant ist, dass in diesem Revierteil deutlich mehr Birkenwälder vorkommen, obwohl er nur rund 80 km vom anderen Gebiet entfernt ist. Ähnlich wie Oleg lenkt auch Fahrer Sascha den Geländewagen mitten durch die Felder von einem Birkenholzbestand zum nächsten. Auf der Pritsche eines alten UAZ-Geländewagens startete die Revierfahrt für die anderen Jagdgäste. Das Jagdgebiet befindet sich direkt an der Grenze zwischen Russland und Kasachstan. Plötzlich beginnt Lisien, wie wild auf das Dach zu trommeln. „Rehwild, genau vor uns!“, zischt er. Lisien wirkt hektisch, hat anscheinend mehr erkannt als Onno und ich. Diese Reaktion von einheimischen Jagdführern kenne ich. Der Bock muss stark sein. Jetzt hat auch Onno das Stück ausgemacht, und ihm entfährt wie an unserem ersten Jagdtag der viel zu laute Satz: „Das ist ja fast schon ein Hirsch!“
Obwohl das kasachische Steppengras den Wildkörper verdeckt, lasse ich den Bock nicht aus dem Zielfernrohr und ziehe mit. „Big Papa, big Papa!“, flüstert mir Lisien unermüdlich zu und ist wirklich keine große Hilfe, um das Jagdfieber niedrig und die Konzentration aufrecht zu halten. Zitternd nehme ich den Blatter zur Hand und lasse eine Arie erklingen. Auf kleinen kahlen Stellen im Steppengras sehe ich, dass der Bock auf mich und mein Gefiepe zusteht. Doch seine zügige Gangart lässt keinen sicheren Schuss zu. Unermüdlich sucht er weiter nach der rufenden Gespielin.
Plötzlich bricht er keine 30 m vor mir aus dem brusthohen Gras und sichert halbspitz stehend direkt in meine Richtung. Nur den Trägeransatz komplett frei, wandert mein Absehen auf den Wildkörper. Der Schuss bricht und bindet den Kapitalen blitzartig an seinen Platz. Lisien und Onno lassen mir nicht einmal die Chance nachzuladen, so überschwänglich wünschen sie mir Weidmannsheil. Ich kann gar nicht so schnell realisieren, was gerade geschehen ist. Dann erst kommt das Jagdfieber, aber richtig: Meine Hände und Beine beginnen zu zittern.
Als ich beim Bock stehe und ihn in Besitz nehme, halte ich kurz inne und versuche, meine Gedanken zu ordnen und mich zu beruhigen.
Erst nach einer gefühlten Stunde – in Wirklichkeit ist es nur ein Augenblick der Stille zwischen mir und dem kapitalen, sibirischen Achter. Er ist direkt auf die Liebesrufe des Blatters zugestanden. Nach Minuten kommen auch Lisien und Onno hinzu, helfen bei der Roten Arbeit und beim Aufladen.
Brücken bauen
Nach kasachischer Tradition findet am letzten Abend der Jagdreise ein gemeinsames Schüsseltreiben mit allen Berufsjägern und Helfern statt. Obwohl die sprachliche Barriere unüberwindbar sein mag und unser Dolmetscher allerhand zu tun hat, verstehen wir einander irgendwie doch und haben viel Freude. Auch wenn an diesem Abend Menschen aufeinandertreffen, deren Kulturen und Lebensverhältnisse unterschiedlicher nicht sein können, vereint sie dennoch eine gemeinsame Passion – die Jagd.
Organisiert wurde die Jagdreise auf Sibirische Rehböcke von Westfalia Jagdreisen: www.westfalia-jagdreisen.de