Jagd auf den Einkruckigen Gamsjahrling
Erleben Sie die spannende Jagd auf einen einzigartigen Gamsjahrling im Spätsommer. Diese faszinierende Geschichte von Leif-Erik Jonas beschreibt detailliert die Herausforderungen und Freuden der Jagd im Gebirge, vom ersten Anblick bis zum erfolgreichen Abschluss. Entdecken Sie, wie die Natur und das Wetter den Jagdverlauf beeinflussen und wie diese intensive Erfahrung das Leben des Jägers prägt.
Spätsommer. Hundstage und Blattzeit sind vorüber. Der nahende Herbst ist schon deutlich zu spüren – das üppige Grün weicht mehr und mehr einem kargen Braun. Manch ein Bergahorn trägt schon etwas herbstbuntes Laub, die Heidelbeerstauden verfärben sich rötlich, es wird kühler, und immer häufiger wallt der große, weißgraue Gamshüter über Gipfel und Grate.
Es ist dies die Zeit der Jagd auf den fahlgelben Sommergams. Und so sitze ich an diesem Endaugustmorgen am unteren Rand eines Schlages im Bergwald an. Dort steht an einem kaum mehr genutzten und daher stellenweise hoch überwachsenen Forstweg ein enger, aber geschlossener Bodensitz, der vor vielen Jahren gebaut worden ist. Damals muss man von dort aus einen guten Blick zu einer Salzlecke gehabt haben. Mittlerweile ist das Schussfeld jedoch ziemlich zugewachsen, und auch die Salzlecke wird durch eine tief beastete Fichte verdeckt. Daher errichtete ich schon Ende Juli einen doppelten Schrotschuss rechts und etwas oberhalb des Sitzes einen provisorischen Schirm aus Dreibein, Tarnnetz und Getränkekiste, um besseres Sicht- und Schussfeld zu haben. Und in ebendiesem Schirm sitze ich jetzt. Von hier aus habe ich einen recht guten Blick auf den Schlag, der hinauf in lichtes, felsdurchsetztes Fichten-Lärchen-Altholz züngelt.
Begegnung mit dem Pendelkruckigen Gamsjahrling: Vom Anblick zur Faszination
Schon oft bin ich in den vergangenen Wochen hier gesessen. Der Juni war noch jung, als ich beim Rehwildansitz an dem beschriebenen Schlag einen Gams in Anblick bekam, den ich mir äußerst gern zur Beute gemacht hätte. Es war ein Jahrlingsbock, dessen linker Stirnzapfen knapp über der Schädeldecke auf solche Weise gebrochen war, dass die Krucke quasi auf dem Windfang lag – gewissermaßen eine Pendelkrucke. Ich war fasziniert von diesem Gams, vom ersten Augenblick des Erschauens an – nicht nur des ungewöhnlichen Krickels wegen, sondern auch aufgrund der Geschichte, die er zu erzählen gehabt hätte. Was mochte ihm wohl zugestoßen sein? War er im schroffen Gefels abgestürzt oder im ausgehenden Winter von einer Nassschneelawine mitgerissen worden und nur knapp dem Tod entronnen? Oder war er von Steinschlag getroffen worden?
Im Juli zeigte eine Wildkamera, die ich am Rande des Schlages bei einer Salzlecke installiert hatte, dass der Begehrte noch da war.
Der Morgen des 1. August sah mich schließlich noch bei völliger Dunkelheit dort, wo ich auch heute sitze. Doch es kam nur Rehwild in Anblick. Am Abend und an den folgenden Tagen lief es nicht besser.
Etwa eine Woche war vergangen, als mich beim Auslesen der Wildkamera ein freudiger Schreck durchfuhr: Er war wieder dort! Gleich mehrfach hatte er die Salzlecke besucht. Mittlerweile jedoch war aus dem Pendelkruckigen ein Einkruckiger geworden – die Pendelkrucke hatte er zwischenzeitlich eingebüßt, nur noch der etwas verbogene Hornstumpf war verblieben.
So verbrachte ich den Abend dann auch an altbekannter Stelle – doch freilich: Der Abnorme glänzte durch Abwesenheit.
Unberechenbares Wetter und die Jagd auf den Einkruckigen Gams
Dann schlug das Wetter um. Die mehr als einmonatige Hitzeperiode, während der ein Temperaturrekord den nächsten gejagt hatte, wurde endlich von zwei etwas kühleren Regentagen abgelöst. In der Hoffnung und Erwartung, dass die Kühle dem Wild ebenso taugen würde wie mir, setzte ich mich am zweiten Regentag morgens wieder an. Doch nur Gamsgeiß und Kitz kamen in Anblick.
Zwei Tage pausierte ich. Dann zog es mich abends wieder hinaus ins Revier, hin zum Abnormen. Ich war noch nicht wirklich lange gesessen und die interessanteste Zeit des Ansitzes wäre noch vor mir gelegen, als von einer Minute auf die nächste wolkenbruchartiger Regen einsetzte. Flugs raffte ich meine Sachen zusammen und machte mich eilig auf den Weg zum Auto.
Die folgenden Ansitze brachten zwar sehr schönen Anblick von Reh und Gams – nur vom Einkruckigen erschaute ich kein Haar. Die Wildkamera hingegen zeigte, dass er die Salzlecke alle paar Tage einmal besuchte – aber halt immer, wenn ich nicht vor Ort war. Irgendein Zeitmuster ließ sich dabei allerdings nicht erkennen. Einmal kam er morgens, einmal abends, dann wieder mittags, nachts oder eine ganze Woche überhaupt nicht. Was lediglich auffiel, war, dass er bei Nebel oder Niesel die Salzlecke besonders gern aufzusuchen schien. Und so neigte sich der August seinem Ende entgegen.
Das Wetter blieb wechselhaft – auf ein paar Sonnentage folgte immer wieder Wetter, das man zumindest im Hinblick auf den Einkruckigen als interessant bezeichnen konnte. Gestern war wieder so ein Tag gewesen. Ordentlich durchgeweicht war ich beim Abendansitz – aber das ist eigentlich auch schon alles, was es von diesem Ansitz zu berichten gibt.
Nebel und Regen: Herausforderungen bei der Jagd auf den Einkruckigen
Heute regnet es immer noch, und der Regen wird von Minute zu Minute stärker. Ich bin noch keine halbe Stunde gesessen und die Bergwelt liegt noch im schwindenden Graudämmer eines trüben Morgens, als ich entscheide, meinen Schirm zu verlassen und in den eingangs beschriebenen Bodensitz umzuziehen – eine gute Entscheidung, denn es dauert nicht lange, bis es wie aus Kübeln schüttet.
Als der Regen nachlässt, zieht Nebel ins Tal herein, sodass die Sicht noch kaum mehr als einen Schrotschuss beträgt. Daran ändert sich auch für weit mehr als eine Stunde nicht das Geringste. Irgendwann lichtet sich der Nebel dann aber doch ein wenig, und schemenhaft kann ich für einige Augenblicke ein Stück Gamswild erschauen, das zur Salzlecke hinaufzieht. Doch nur kurz – dann hat es der große, weiße Gamshüter, der heute seinem Namen alle Ehre macht, wieder verschluckt. Einige Minuten vergehen, als der Nebel plötzlich aufreißt und freien Blick zur Salzlecke gewährt. Der Gams steht jetzt an der Lecke, doch durch die Astübergitterung der davor stehenden Fichte ist nur ein Teil der Schlegel zu erkennen – ein paar Sekunden nur, dann fällt der trübe Vorhang wieder. Skeptisch schaue ich ins endlos scheinende Weiß hinaus – es sieht wahrlich nicht danach aus, dass sich die Sicht in absehbarer Zeit wieder verbessern würde. Und allzu lange wird sich der Gams an der Salzlecke auch nicht aufhalten. Die Zeit droht mir davonzulaufen!
Endlich Erfolg: Der Einkruckige Gamsjahrling im Visier
So schultere ich Rucksack und Bockbüchsflinte, Fernglas und Bergstock nehme ich auch noch mit und birsche den Forstweg ein Stück hinauf, krieche durch eine tropfnasse Fichtendickung und richte mir an deren Rand den Rucksack als Auflage her, darauf vorerst das Spektiv, die Waffe daneben – und warte. Hin und wieder ist an der Salzlecke schemenhaft ein fahlgelbes Etwas zu erahnen – mehr nicht. Nach einigen Minuten des Wartens, Bangens und Hoffens gebe ich auf, lasse meinen Rucksack zurück und setze alles auf eine Karte: Entlang der Forststraße, die bis nahe an die Salzlecke heranführt, gehe ich weiter bergwärts. Zusätzlich zum Nebel deckt mich bis zu einer Spitzkehre die Fichtendickung. Ab der Kehre überriegelt die Salzlecke ein undeutlicher Geländerücken. Schritt für Schritt nähere ich mich diesem Rücken, und als ich ihn erreiche, schiele ich in Richtung Salzlecke hinauf. Doch von hier aus versperren tief beastete Fichten den Blick zur Lecke. So hilft alles nichts – auf allen Vieren krieche ich durch das hohe, regennasse Gras, das auf dem Weg wächst. Dadurch geben mir wenigstens die am Wegrand wachsenden Himbeerstauden etwas Deckung – und der Nebel tut sein Übriges.
Ich bin vielleicht einen halben Schrotschuss weit gekommen, als ich durch eine schmale Lücke im Himbeerbewuchs droben im steilen, nebelumwallten Hochwald rechts oberhalb der Salzlecke einer gamsförmigen Kontur gewahr werde. Der Blick durchs Glas gibt Gewissheit – Gams ja, aber die Geiß von neulich, die zu mir herunteräugt, im Nebel aus dem Eräugten aber offenbar nicht ganz schlau wird. Ernüchterung! Alles war umsonst, die ganze Kriechbirsch durch das regennasse Zeug. Halt! Da – eine Gamslänge weiter links, hinter diesem grasüberwachsenen, vermodernden Wurzelteller, hat sich doch etwas bewegt! Etwas überrascht bin ich wohl, denn im Nebel habe ich die ganze Zeit nur ein einziges Stück Wild gesehen – aber mehr als der Lauscher eines weiteren Gams ist auch jetzt vorerst nicht zu erkennen. Dann hebt das Stück sein Haupt, und mein Puls schlägt von einer Sekunde auf die nächste schneller – er ist es, der gesuchte Jahrling, der Abnorme, der Einkruckige! Langsam streiche ich meine Bockbüchsflinte sitzend am Bergstock an, stütze die Ellbogen auf die angezogenen Knie. Diese Bewegung muss der Jahrling wahrgenommen haben – oder ist er einfach auf den starr auf mich gerichteten Blick der Geiß aufmerksam geworden?
Jedenfalls zieht er ein, zwei Schritt auf mich zu, halb auf den Wurzelteller, der bis auf Haupt, Träger und Stich immer noch den gesamten Wildkörper verdeckt, hinauf. Der Einkruckige steht ziemlich spitz zu mir her – eigentlich zu spitz. Doch hier ist es situationsbedingt eine Ausnahme: Der Schusswinkel ist derart steil, dass eine auf den Stich angetragene Kugel den Wildkörper zwischen den Blättern am Rücken wieder verlassen wird, ohne das Zwerchfell zu durchdringen und das Gescheide zu verletzen.
Das Fadenkreuz steht ruhig am Stich. Dumpf hallt der Knall in den Nebelmorgen hinaus. Die Geiß sehe ich nach rechts abspringen, der Abnorme ist verschwunden. Ist er am Anschuss zusammengebrochen oder nach links – durch den Wurzelteller und tief beastete Fichten gedeckt – geflüchtet?
Nun hält mich nichts mehr am Forstweg. Einem Wechsel folgend erklimme ich den Steilhang. Als ich die Höhe des Wurzeltellers erreicht habe und hinter ihn spähen kann, leuchtet mir zwischen einigen Fallästen eine fahlgelbe Decke entgegen – da liegt er, der Einkruckige! Fast vier Wochen habe ich überwiegend dem Erjagen dieses Wildes gewidmet – fast vier Wochen hat dieses Wild mein Leben geprägt.