Artikel

Ruf der Ferne

26. November 2021 -
Der Allentsteiger Wolf als YouTube-Star. - © FIWI
© FIWI

Ein aktuelles Forschungsprojekt des Forschungsinstituts für Wildtierkunde und Ökologie der Veterinärmedizinischen Universität Wien befasst sich mit dem Wolf in Allentsteig.

Ein junger Wolfsrüde verspürt seit Wochen den inneren Drang, die Umgebung immer mehr und immer weiter zu erkunden. Es ist bereits April, die Ranzzeit ist vorbei und die Wolfsfamilie bekommt bald wieder Nachwuchs. Die Raufereien mit seinen Geschwistern werden ihm langsam zu viel, und der Drang, Neues zu entdecken, wird stärker als die Bereitschaft, weiterhin in der Familie zu helfen. An einem kalten Aprilabend findet er bei einem Spaziergang im Revier der Eltern ein Stück Rotwild, das regungslos am Teichufer liegt. Es wurde vermutlich von seinen Geschwistern ins Wasser getrieben und ist ertrunken. Ein gutes Abendmahl! Auf dem Weg zum Stück entscheidet er sich dafür, den angenehmeren Weg an einem Baumstamm entlang zu nehmen und nicht durch die kniehohen Brennnesseln zu laufen. Seine Nase ist auf das Stück am Ufer konzentriert, sein Kopf erhoben.

Erwachen mit Souvenir

Als er ein lautes Klickgeräusch wahrnimmt, ist es bereits zu spät, und seine Pfote steckt schon in einer mit Gummi überzogenen Fußtrittfalle fest. Es dauert nicht lange, da befindet er sich bereits im Land der Träume. Er wurde von einem Team aus Tierärzten, Biologen und Bundesheerpersonal mit dem Narkosegewehr betäubt. Aus seinem Traum erwacht er mit einem „Souvenir“, einem GPS-Halsband, das den Biologen ab jetzt regelmäßig verrät, wo sich der junge Wolfsrüde aufhält. Etwa eine Woche später entscheidet er sich, endgültig abzuwandern und macht sich schnurstracks auf den Weg nach Norden.

Rotwild & Wolf

Das leider kurze Abenteuer des jungen Rüden ist nur Teil eines umfangreichen Forschungsprojekts auf dem Truppenübungsplatz Allentsteig im Waldviertel. Das Projekt wurde im Winter 2019 mit einer bis dato ein­maligen Fragestellung begonnen. Aus früheren Projekten des Forschungsinstituts für Wildtierkunde und Ökologie der Veterinärmedizinischen Universität Wien (FIWI) wussten wir, dass Rotwild den Stoffwechsel im Winter drastisch herunterfährt und so die kalte und karge Jahreszeit trotz wenig vorhandener Nahrung überlebt. Aber macht Rotwild das auch, wenn es seinen Lebensraum mit einem Wolfrudel teilen muss, wie das in Allentsteig seit 2016 der Fall ist? Die Frage ist berechtigt, denn die winterliche Stoffwechsel­reduktion ist Rotwild nur möglich, wenn es an der Aufrechterhaltung einer hohen Körpertemperatur spart, vor allem in den Beinen. Mit kalten Beinen ist aber schlecht laufen. Ein Risiko, das Rotwild vielleicht nicht mehr wagt, wenn der Wolf präsent ist.
Um diese Frage beantworten zu können, ist es notwendig, Individuen beider Arten zu fangen und sie mit Sendern auszustatten, um einerseits die Bewegungen zu überwachen und andererseits beim Rotwild zusätzlich physiologische Parameter, wie Herzschlagrate und Temperatur, zu erfassen, die Aufschluss über die Stoffwechsellage geben. Das Rotwild wird mit Kastenfallen und Fangkrälen gefangen. Diese Methode ist als tierschonend bekannt, da sich in der Falle befindliche Tiere sehr ruhig verhalten. Das Rotwild wurde mit GPS-Halsbändern und einem in den Pansen eingebrachten Miniaturmessgerät ausgestattet, das dort die Herzschlagrate und die innere Körpertemperatur misst und die Daten an das Halsband sendet, in dem sie gespeichert werden.

Mit Fingerspitzengefühl

Die Wölfe fangen wir mit Fußtrittfallen, für die wir eine Sondergenehmigung bekommen haben. Diese Methode funktionierte schon vor mehreren Hundert Jahren und ist heute für wissenschaftliche Projekte immer noch unverzichtbar. Das Fangen von Wölfen ist keine einfache Aufgabe. Man hat es hier mit einer Art zu tun, die am Ende der Nahrungskette steht, nicht unbedingt an Hunger leidet und zudem extrem vorsichtig und lernfähig ist. Diverse Forschungsgruppen haben versucht, die Wölfe auszutricksen, indem sie fast „steril“, das heißt ohne das Hinterlassen von Geruchsspuren gearbeitet haben. Wir mussten aber die Erfahrung machen, dass, egal wie man vorgeht, die Wölfe immer bemerken, wenn in ihrer gewohnten Umgebung irgendetwas verändert wurde, sei es der Geruch von Menschen oder die Bodenverletzungen durch das Eingraben der Fallen.
Nur wenn es gelingt, die richtigen Köder in der richtigen Menge an der richtigen Stelle zu positionieren, kann der Wolf für ein paar entscheidende Momente abgelenkt werden und wird beim Setzen seiner Tritte unachtsam. Gefangene Wölfe werden auch mit GPS-Halsbändern ausgestattet. Die Halsbänder senden nicht nur die GPS-Positionen, sondern erfassen über spezielle Sensoren auch, ob sich ein anderes Halsband in der Nähe befindet. Kommt es zu einer Annäherung eines besenderten Wolfes an ein Stück besendertes Rotwild auf weniger als 100 m, dann werden die GPS-Peilungen höher getaktet, um häufigere Aufzeichnungen der Positionen zu liefern. Dadurch können wir die Dynamik von Interaktionen genau analysieren.

Narkotisierter Wolf wird besendert. - © FIWI
© FIWI
Rotwild-Kastenfalle - © FIWI
© FIWI
Fangkral zum Fang von Rotwild - © FIWI
© FIWI
Ein Wolfsrüde wanderte nach Polen ab. - © FIWI
© FIWI
Eine Wolfsfähe wanderte nach Tschechien ab. - © FIWI
© FIWI

Absenz nicht gleich Absenz

Neben der Telemetrie überwachen wir die Größe und Dynamik des Allent­steiger Wolfsrudels genetisch durch die Analyse von Kotproben, die das ganze Jahr über auf dem Truppenübungsplatz gesammelt werden. So gelang es bisher jedes Jahr, die Präsenz des Elternpaares und des Nachwuchses von immer mindestens sechs Welpen nachzuweisen. Die Anzahl der bei der Welpenaufzucht helfenden älteren Geschwister schwankt von Jahr zu Jahr und ist schwierig zu überwachen. Von den bisher vier besenderten Wölfen konnten wir zwei über mehrere Monate genetisch nicht nachweisen, obwohl wir anhand der GPS-Daten wussten, dass sie noch im Rudel waren. Das hat uns gezeigt, dass Absenzdaten bei großen Beutegreifern mit Vorsicht zu genießen sind. Soll heißen: Ein fehlender Nachweis von Präsenz bedeutet keinesfalls, dass ein Tier nicht mehr anwesend ist.

Charakterfrage

Kehren wir nun zu unserem Wolfs­rüden zurück. Bei den Wölfen gibt es, wie bei uns Menschen auch, unterschiedliche Persönlichkeiten. Es gibt einige, die lange im „Hotel Mama“ bleiben und erst später über die eigene Zukunft nachdenken. Dann gibt es welche, die schon früh abwandern, aber eher in der Nähe bleiben. Der Wolfsrüde, um den es hier geht, sowie eine seiner Schwestern gehören zu keinem dieser beiden Typen, sondern haben sich zum Abwandern über große Distanzen entschieden. Manchmal führte sie ihr Weg über alte Wolfswechsel, manchmal über Wanderrouten von Schalenwild, aber oft gingen sie mehr oder weniger planlos einfach in eine Richtung. Eine der längsten Abwanderungen bei besenderten Wölfen hatte eine Distanz von über 800 km Luftlinie! Die Abwanderung gehört zu den gefährlichsten Zeiten im Leben eines Wolfes. Im Territorium des eigenen Rudels wissen die Wölfe genau, wo es Futter und Wasser gibt, wo Gefahren lauern und wie man am schnellsten von A nach B kommt. Draußen in einer fremden Welt begegnen die Wölfe vielen Dingen zum ersten und oft auch zum letzten Mal in ihrem Leben. Die Gefahren, wie beispielsweise eine Autobahn, Zugschienen oder Ähnliches, sind für junge Wölfe oft tödlich.
Auch die Begegnung mit einem anderem Wolf oder einem Wolfsrudel ist eine häufige Todesursache auf der Wanderung. Im Nationalpark Yellowstone sterben beispielsweise 20 % aller Wölfe durch Kämpfe mit Artgenossen. Eine der von uns besenderten Fähen machte eine lange Reise nach Tschechien und hat auf dem Truppenübungsplatz Hradiste mit einem Rüden ein eigenes Rudel gegründet. Sie hat dort mindesten einmal für Nachwuchs gesorgt. Heuer ist sie leider durch den Militärbetrieb ums Leben gekommen.
Unser Wolfsrüde hingegen hatte Fortuna auf seiner Seite und hat es über Tschechien nach Polen geschafft. Dabei ist er jede Nacht etwa 30 km gewandert und hat zwei vierspurige Autobahnen überquert. In Polen wurde er von unseren Kollegen in Begleitung einer Wolfsdame gefilmt. Der Waldviertler und jetzt neupolnische Wolfsrüde ist sogar auf YouTube zu sehen!

Fazit

Die Feldarbeit in Allentsteig hat uns jeden Tag etwas Neues gelehrt und ließ gute Freundschaften entstehen. Ohne die Unterstützung von unseren Tierärztinnen, unserem Genetiklabor, den Mitarbeitern vom Bundesheer, insbesondere aus der Jagdverwaltung und den Referaten Ökologie und Jagd, sowie vom Land Niederösterreich, wäre ein Projekt dieser Art nicht möglich. Jetzt gilt es, mit erneuter, vereinter Anstrengung wieder Wölfe und vor allem noch mehr Rotwild zu fangen und zu besendern. Dann wird uns dieses Projekt, das noch bis 2025 läuft, noch mehr wertvolle wissenschaftliche Erkenntnisse liefern, die für das Management von Rotwild und dem sich wieder ausbreitenden Beutegreifer Wolf unverzichtbar sind.