Reportage

Das FIWI: Dem Wilden so nah

21. Juni 2024 -
Zu Besuch im FIWI - © Michaela Landbauer
© Michaela Landbauer

Das Forschungsinstitut für Wildtierkunde und Ökologie ist den meisten Jägern ein Begriff, und dennoch hatten die wenigsten schon mit dem FIWI zu tun. – Grund genug, die Wildtierforschung vor den Vorhang zu holen.

Das Rottier windet an der Hand meines Kollegen, er hat sich hingekniet. Er ist Hunde­besitzer, das wird es wohl sein, was das Interesse des Tieres ­geweckt hat. Ich gehe in die Hocke, und ganz sachte neigt sich das Haupt des stattlichen Tieres in meine Richtung. Es ist so nah an meinem Kopf, dass ich die Wärme seines Atems an meiner Schläfe spüren kann. Kurz stockt mir der Atem. Wir befinden uns im rund 45 ha großen Wildgehege des Forschungsinstituts für Wildtierkunde und Ökologie, kurz FIWI: Hier folgt der Theorie im wahrsten Sinne des Wortes Praktisches zum Angreifen.

Zu Besuch im FIWI - Die FIWI-Institutsleiterin Univ.-Prof. Dr. Claudia Bieber (Mitte) führte die WEIDWERK-Redaktion durch die Räumlichkeiten der Einrichtung. - © Michaela Landbauer

Die FIWI-Institutsleiterin Univ.-Prof. Dr. Claudia Bieber (Mitte) führte die WEIDWERK-Redaktion durch die Räumlichkeiten der Einrichtung. © Michaela Landbauer

Einblicke ins FIWI

Das FIWI ist ein Institut der Veterinärmedizinischen Universität Wien. Seit eineinhalb Jahren obliegt Univ.-Prof. Dr. Claudia Bieber die Leitung des ­Instituts, an welchem sie bereits seit 27 Jahren (1997) forschend tätig ist. Ihr Steckenpferd liegt in der Evolutionären Ökologie. Dieser Forschungsbereich beschäftigt sich mit den Anpassungen von Lebenszyklusstrategien und der Dynamik von Populationen. „Wir befassen uns in der Forschung unter anderem damit, wie sich der Klima­wandel auf Reproduktion und Über­leben der Wildtiere auswirkt und wie er deren Populationen in ihrem Ökosystem ­beeinflusst.“ Dabei finden Arten von Kleinsäugern (Schlafmausarten) bis hin zum Schalenwild Beachtung 1).
Die zentrale Aufgabe des FIWI ­besteht darin, Bedürfnisse sowie Ver­halten von Wildtieren in ökologischen Zusammenhängen zu erforschen, um damit wissenschaftliche Grundlagen für effizienten Natur-, Arten- und Umweltschutz für eine nachhaltige Nutzung von multifunktionalen Landschaften zu schaffen 2). Die inter­natio­nale Vernetzung des FIWI kommt dem ­Austausch von Forschungsergebnissen zugute.
„Das Spannende ist die Inter­disziplinarität“, so Claudia Bieber, „und dass wir wirklich eigene Experten haben, die ihr Know-how ein­bringen und sich mit Experten im jewei­ligen Feld international vernetzen. Dadurch verfügen wir über eine relativ einzigartige Konstellation. Es arbeiten nicht mehrere Leute an derselben Fragestellung, ­sondern eine Gruppe an den ver­schiedensten Aspekten.“
Das FIWI zählt übrigens 52 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Arbeits­bereichen Bewegungsökologie, Chemie, Conservation Medicine, Evo­lutionäre Ökologie, Genetik, Ökophysio­logie, Pathologie, Telemetrie, Wildtiermedizin sowie Verwaltung.

Geschichte des Forschungsinstituts

Vor knapp 47 Jahren (Ende 1977) kam das Institut zu seiner Gründung. Es war das erste Forschungsinstitut Österreichs, das sowohl von einer Universität als auch von privaten Geldgebern, organisiert in einer Fördergesellschaft, betrieben wurde. Erster Leiter des damals neuen Forschungsinstituts war Univ.-Prof. Dr. Kurt Onderscheka. Nach seiner Emeritierung (Ruhestand) 1995 folgte ihm Univ.-Prof. Dr. Walter Arnold nach, der wiederum 2021 emeritierte. Nachfolgend leitete Univ.-Prof. Dr. Melanie Dammhahn kurzfristig das FIWI, und seit Anfang 2023 ist Univ.-Prof. Dr. Claudia Bieber, vielen Lesern als WEIDWERK-Autorin bekannt, neue Institutsleiterin.
Anfangs war das neue Forschungs­institut für Wildtierkunde im 3. ­Wiener Gemeindebezirk angesiedelt, doch die Räumlichkeiten erwiesen sich für ­Forschungszwecke als nicht aus­reichend. Die Stadt Wien stellte mit dem heutigen Standort des FIWI und dem Groß- bzw. Forschungsgehege für Wildtiere am Wilhelminenberg eine ­Lokation bereit, die weltweit einzig­artig ist. Das heutige FIWI befindet sich in einem ehemaligen Wirtschaftsgebäude des Schlosses Wilhelminenberg, das durch Adaptierung zu einer modernen Forschungseinrichtung avancierte. Die Eröffnung folgte Ende 1982. Das Institut erweiterte seine ­Forschungstätigkeiten um den Aspekt der ökologischen Zusammenhänge und genießt internationale Anerkennung 3).

Zu Besuch im FIWI - Ass.-Prof. Dr. Alba Hykollari erklärt im Chemie- und Genetik-Labor einzelne Aufgabenstellungen. - © Martin Grasberger
Ass.-Prof. Dr. Alba Hykollari erklärt im Chemie- und Genetik-Labor einzelne Aufgabenstellungen. © Martin Grasberger
Zu Besuch im FIWI - Während unseres Besuchs wurden etwa Proben von Rotwildlosung untersucht - © Martin Grasberger
Während unseres Besuchs wurden etwa Proben von Rotwildlosung untersucht © Martin Grasberger

Interaktion mit Jägern

Unser nächster Weg führt uns ins Biochemielabor, dessen Leitung Ass.-Prof. Dr. Alba Hykollari obliegt. Die Wissenschafterin untersucht mit ihrem Team Moleküle (Bruchteile) eines Organismus, um die Verbindungen von Stress, ­Infektionen oder Winterschlaf bei Wildtieren genauer zu ergründen.

Zu Besuch im FIWI - Ass.-Prof. Dr. Anna Kübber-Heiss und ihr Kollege Helmut Dier, gelernter Präparator, zeigten besondere Gustostückerl aus der Patho­logie. - © Jakob Wallner
Ass.-Prof. Dr. Anna Kübber-Heiss und ihr Kollege Helmut Dier, gelernter Präparator, zeigten besondere Gustostückerl aus der Patho­logie. © Jakob Wallner
Zu Besuch im FIWI - Etwa die Schalen eines Wildschweins, das sich im juvenilen Alter einen Metallring eingetreten hat. - © Martin Grasberger
Etwa die Schalen eines Wildschweins, das sich im juvenilen Alter einen Metallring eingetreten hat. © Martin Grasberger
Zu Besuch im FIWI - Oder den ­Schädel eines Wildschweins, das ohne ­Oberkiefer über­leben konnte. - © Martin Grasberger
Oder den ­Schädel eines Wildschweins, das ohne ­Oberkiefer über­leben konnte. © Martin Grasberger
Zu Besuch im FIWI - Oder unterschiedliche Arten des Leberegels (v. l. n. r.). - © Jakob Wallner
Oder unterschiedliche Arten des Leberegels (v. l. n. r.). © Jakob Wallner

Weiter geht es in die Pathologie. Wir staunen nicht schlecht, als Ass.-Prof. Dr. Anna Kübber-Heiss, die Leiterin des Pathologischen Labors, einen ­beachtlichen Glasbehälter voller Ameri­kanischer Riesenleberegel (siehe Bild 4, Seite 17) auf den Seziertisch, ­Mittelpunkt des Raumes, stellt. „Diese ­Exemplare haben wir in einer einzigen Leber ­gefunden“, betont Kübber-Heiss. „Gemeinsam mit dem NÖ Jagdverband legen wir den Forschungsschwerpunkt aktuell auf die Verbreitung des Riesenleberegels, da neben den Donauauen seit einiger Zeit auch der TÜPL Allentsteig betroffen ist. Die Veränderung befallener Lebern wirkt oft dramatisch, auch wenn eine Ansteckung mit diesem Parasiten für das Rotwild – im Gegensatz zum Rehwild – nicht letal endet. Oft verfügt befallenes Rotwild über gutes Nierenfett, und weibliche Stücke sind in der Regel so fit, dass sie erfolgreich ­beschlagen werden können. Haarkleid, Abmagerung – alles, was Jäger beim Aufbrechen beurteilen können, bekommen wir mit der Leber in einer schriftlichen Dokumentation übermittelt.“ Vor Hunderten von Jahren wurden Riesenleberegel – kaum zu glauben – sogar verzehrt, zumindest liegen dem FIWI Aufzeichnungen von Rezepten vor.
Ein Stück Rotwild könne längere Zeit mit dem Parasiten leben, ohne ­beeinträchtigt zu sein, weiß Kübber-Heiss, eine Übertragung auf den ­Menschen sei bislang unbekannt.
Etwa 1.000 Tiere landen jedes Jahr auf dem Seziertisch der Pathologie, vergangenes Jahr waren es 1.041 Stück. „Unser Fokus liegt auf der Feststellung der Todesursache“, erklärt die Veterinär­medizinerin. „So schicken Jäger aus Niederösterreich zum Beispiel verendet aufgefundene oder erlegte Wildtiere mit Auffälligkeiten zu uns oder bringen diese persönlich vorbei. Wenn Jäger beispielsweise in regelmäßigen Abständen eingegangene Feld­hasen finden, stellen sie sich die berechtigte Frage nach der Ursache.“ Die Wildarten, die von Jägern im FIWI abgegeben würden, variieren im Jahreslauf je nachdem, welche Krankheit gerade „durchgehe“, so die Wissenschafterin. „Wenn die Tularämie oder die Brucellose beim Feldhasen grassiert, gerade im Frühling, bekommen wir viele Feldhasen herein. Wildschweine haben wir in den letzten Jahren eher wenige, weil die Totfunde im Hinblick auf die Afrikanische Schweinepest zur AGES müssen. Wir dürfen also nur ­erlegte Wildschweine übernehmen, die beispielsweise abgekommen sind, räudig/­krätzig aussehen oder andere Auffälligkeiten haben. Wir schicken dann Proben an die AGES weiter.“
Rehe würden eher selten ins FIWI gelangen, so Kübber-Heiss weiter. „Manchmal erhalten wir Rotwild im Herbst mit dem Verdacht auf Wilderei. Oft stellt sich dann heraus, dass die ­Todesursache eine Forkelverletzung war.“ Aktuell läuft übrigens ein EU-Projekt namens „Wildlife Crime“, das sich mit dem Thema Wilderei befasst.
Auf einem anderen Tisch ist ein Mikroskop zu sehen. Winzig kleine Fuchsbandwürmer werden damit sichtbar. Besondere Vorsicht gilt beim ­Pflücken von Beeren oder Schwammerln im Wald. Es bedarf einer gut 20-­minütigen Erhitzung bei über 70 °C, um gegebenenfalls darauf haftende Fuchsbandwurmeier unschädlich zu machen. Mittels Blutunter­suchung beim Hausarzt kann übrigens geklärt werden, ob man den Fuchsbandwurm in sich trägt, allerdings muss man den Arzt extra darauf hinweisen – im „normalen“ Blutbild ist es nicht enthalten.
Die größten Tiere, die bis dato auf dem Seziertisch der Pathologie gelandet sind, waren Elefant und Flusspferd. Das seltenste Tier war ein Großer Panda aus dem Tiergarten Schönbrunn.

Zu Besuch im FIWI - Tierpfleger Peter Steiger kümmert sich um das handzahme Rotwild. - © Jakob Wallner

Tierpfleger Peter Steiger kümmert sich um das handzahme Rotwild. © Jakob Wallner

Tierhaltung zur Forschung am FIWI

Unsere letzte Station ist die Tierhaltung. Der erfahrene Tierpfleger Peter Steiger führt uns an einem Gehege mit Schafen vorbei, die zum Zaun kommen und in unsere Richtung blöken, als wir ihr Gatter passieren. Steiger bleibt vor einem großen Tor stehen, das uns auf das Gelände blicken lässt, in dem sich das Rotwild befindet. Beziehungsweise auf einen minimalen Ausschnitt davon. Der beachtliche Wald im Hintergrund bietet dem Wild Freiheit, Ruhe und einen Rückzugsort. 18 weibliche Stück Rotwild sowie ein Hirsch befinden sich im Gehege, welches ideale Bedingungen für Studien an dieser Wildart bietet. Die hochtechnische Fütterungsanlage ermöglicht eine kontrollierte und indi­viduelle Verabreichung der Äsung, ebenso wird das Gewicht durch eine ­spezielle Waage, auf welche sich ein Tier im Rahmen der Fütterung stellt, eruiert. „Hemingway“, der einzige Hirsch des Rudels, befindet sich im 4. Kopf. ­Während unseres Besuchs ist er durch einen Zaun von den weiblichen Stücken getrennt und soll in den kommenden Jahren für reichlich Nachwuchs sorgen.
Ein Team aus Tierärzten ist ebenfalls wichtiger Bestandteil des FIWI. Durch ihre Expertise sind nicht nur die Tiere am Standort bestmöglich betreut, die Tierärzte bringen sich auch in welt­weiten Forschungsprojekten und Naturschutzinitiativen ein. Im Jahr 2023 setzte das Team Projekte um, etwa das Anbringen von Sendern bei verschiedenen Wildtierarten oder das ­Implantieren von Datenloggern bei Winterschläfern. Auch im vergangenen Jahr bot sich etlichen Studenten die Möglichkeit, die Arbeit der FIWI-Tierärzte zu begleiten und auf diese Weise in den Bereich Conservation Medicine hineinschnuppern zu können. 2023 gab es am FIWI 252 Wildtierbehandlungen an Tieren im Zuge wissenschaftlicher und tierärztlicher Projekte sowie solcher im Bereich des Artenschutzes (97 Hasenartige und Nager, 46 Huftiere, 5 große Beutegreifer, 76 Vögel, 28 Amphibien und Reptilien). Der Tierbestand des Forschungsinstituts beläuft sich auf 326 Säugetiere (Schlafmäuse, Hasen, Rotwild, Schafe).
Unser Tag am FIWI neigt sich dem Ende zu. Wie ein Ort der Entschleunigung fühlt es sich an, im ­Großgehege nahe einem Rudel Rotwild zu stehen. Ein Ruhepol in der Großstadt, weit weg von all der Schnelligkeit des Alltags, dem Wilden so nah.

Quellen:
1) Vetmeduni Wien, FIWI, Evolutionäre Ökologie
2) Vetmeduni Wien, FIWI, Über uns
3) Vetmeduni Wien, FIWI, Geschichte des Instituts