Artikel

Wie der Schelm denkt

24. November 2022 -
Wie der Schelm denkt - © Fritz Wolf
© Fritz Wolf

Entdecken Sie in "Wie der Schelm denkt" faszinierende Einblicke in die Denkweise von Wildtieren und Jägern. Erfahren Sie, wie das Verhalten und die Strategien von Wild und Mensch das Jagderlebnis prägen. Ein spannender Artikel für alle, die tiefer in das Zusammenspiel von Natur und Jagd eintauchen möchten.

Ich birsche leise durch den dunklen Mischwald, meine Schritte behutsam auf den mit feuchtem Laub bedeckten Forstweg setzend. Ich bin von der „Reviermanager“-App, mit der wir in unserem Revier vier Wildkameras organisieren, vor ein paar ­Minuten am Handy auf Sauen aufmerksam gemacht worden: Eine Rotte mit zwei stärkeren Bachen und einigen etwa 25 kg schweren Frischlingen hat sich bei einer Kirrung eingefunden – einen Frischling möchte ich mir holen.
Ich kenne das Revier und damit den Weg zur Kirrung wie meine Westen­tasche. Ich prüfe den Wind, welcher für mein Vorhaben perfekt passt. Alle paar Schritte bleibe ich ­stehen, um durch die Wärmebild­kamera zu blicken. Ich möchte einerseits unbedingt vermeiden, von in der Nähe lagernden Rehen oder Rotwild entdeckt und lautstark „kund­getan“ zu werden und andererseits das Wild nicht unnötig vergrämen. Und siehe da, es gelingt: Minuten später komme ich bei der Kirrung an und bringe mich mit dem Schießstock – einem lederummantelten Vierbein – in Stellung. Es sind nur noch fünfzig Meter bis zu den Sauen, die keinerlei Notiz von mir genommen haben. Ich schalte das Wärmebild­vorsatzgerät ein, nehme einen abseits stehenden Frischling ins Visier, und Augenblicke später schnalzt der schallgedämpfte Schuss durch den Wald. Ich höre den Kugelschlag lauter als sonst – hart am Blatt getroffen liegt die Frischlingsbache im Feuer. Alle anderen Rottenmitglieder springen in der ­Sekunde ab, versammeln sich unweit des Anschusses und sichern. Sie können die Schussrichtung nicht zuordnen und sind sichtlich irritiert, was da ­gerade passiert ist. Bewegungslos verhoffen sie im dichten Bestand – ich kann sie mit der Wärmebildkamera ­beobachten. Nach einer Viertelstunde ziehen sie weg, und es kehrt völlige Ruhe ein.

Technik vom Feinsten

Immer wieder hört und liest man, dass die jagdlichen Fähigkeiten der Jäger mit zunehmender Technisierung abnehmen würden. Der Jäger verliere den Zugang zu seinem Handwerk, seine Sinne würden immer mehr ­abstumpfen. Aber ist das tatsächlich so? Eine Frage, die für mich pauschal nicht so einfach zu beantworten ist.
Gerade in den letzten Jahren hat sich – was die „Technisierung“ der Jagd betrifft – enorm viel getan. Hier ein paar Beispiele:

  • Funk-Wildkameras mit Echtzeitübertragung von Bildern und Videos
  • Schalldämpfer
  • Ziel­fernrohre mit integriertem Entfernungsmesser
  • hochpräzise Jagdgewehre mit ­ergonomischer Schäftung aus Kunststoff oder Carbon
  • bleifreie Jagdmunition
  • Nachtsicht- und Wärmebild­technik (Ziel-, Vorsatz- und Nachsatzgeräte)
  • Drohnen („Unmannend Aircraft System“, UAS)

Diese technische „Aufrüstung“ hat zweifelsfrei dafür gesorgt, dass sich die Anforderungen an den Jäger, sozusagen dessen jagdliche „Skills“, ver­ändert haben. Es ist eben nichts mehr so wie früher, und die heutige, schnelllebige Zeit führt das umso deutlicher vor Augen. „Nichts ist so beständig wie der Wandel“, meinte schon Heraklit von Ephesus (535–475 v. Chr.).
Wie stehen wir nun zu neuen Errungenschaften? Nun, grundsätzlich ist der Jäger von Natur aus skeptisch und muss von der Sinnhaftigkeit manch einer Neuheit erst einmal überzeugt werden. Daher stehen Dinge, die es zum ständigen Handwerkszeug des Jägers bringen wollen, auf dem Prüfstand. Denken wir etwa an das beleuchtete ­Absehen im Zielfernrohr, welches vor etwa dreißig Jahren auf den Markt kam und heute als Selbstverständlichkeit gilt. Damals stieß es aber auch nicht bei jedermann auf offenes Gehör. ­Manche Dinge brauchen eben Zeit.

Im Wald wird’s eng

Es ist ein Faktum, dass die Menschen spätestens seit Beginn der Corona­pandemie immer mehr in die Natur drängen und dort – meist unbewusst – für eine Beunruhigung des Wildes sorgen; gerade in den Wintermonaten geht dies mit der latenten Gefahr ­einher, dass Wildtiere aufgrund dieser Störungen ihren „Ruhemodus“ für Fluchten unterbrechen müssen, (über-)lebenswichtige Energie verbrauchen und unter Umständen an den Folgen dieser Energieverluste eingehen.
Damit aber nicht genug, denn der „Freizeitdruck“ zieht einen Rattenschwanz an Folgen nach sich, die selbstverständlich auch den Jäger betreffen. Das Wild stellt sich bekanntlich auf die Veränderungen in seinem Lebensraum ein, wird nachtaktiv und somit schwieriger zu bejagen. Dies stellen wir gerade in unserem Waldviertler Jagdrevier fest, wo der Wolf seine Fährte zieht. Ob Freizeitdruck, Große Beutegreifer oder der Schwund des Lebensraumes: Es wird für den Jäger immer schwieriger, den behördlichen Abschussplan zu erfüllen.
Wenn der Jäger ständig im Revier seine Wittrung verströmt, wird er die mancherorts ohnehin schon prekäre Situation unter Umständen sogar noch verschärfen. Daher kann eine Wild­kamera, die Bilder in Echtzeit auf das Smartphone des Jägers übermittelt, durchaus für „Entspannung“ bzw. „Entschleunigung“ sorgen, da dieser seine Reviergänge auf die Bewegungen des Wildes ausrichtet. Und dennoch: Wenn es etwa die Schadenssituation ­erfordert, ist die punktuelle Erhöhung des Jagddrucks unabdingbar – hier kann sich der Jäger im eigenen Interesse nicht zurücknehmen. Immerhin ist er derjenige, der für entstehende Wildschäden aufzukommen hat.

Wie der Schelm denkt - © Fritz Wolf

© Fritz Wolf

Jagen mit Hightech

Die Jagdbüchse eines modernen Wildschweinjägers, nur, um ein Beispiel zu nennen, kann auf einen traditionellen (Berg-)Jäger einigermaßen befremdlich wirken: an der Laufmündung ein Schalldämpfer, am Objektiv des Zielfernrohrs ein Vorsatzgerät mit Wärmebild- oder Nachtsichttechnik montiert. Führig ist diese Büchse kaum noch, funktionell ist sie für den einen Einsatzzweck – die nächtliche Wildschweinjagd – aber allemal.
Ich kann mich noch gut erinnern, als ich vor knapp dreißig Jahren zum ersten Mal auf Sauen jagte. Es waren damals noch kalte Winter mit ge­schlossener Schneedecke, in denen ich in mondhellen Nächten mein Glück versuchte. In Nächten ohne Schnee und ohne Mond tappten die Sauen­-jäger einigermaßen im Dunkeln, außer sie hatten ein Nachtsichtgerät zum ­Beobachten bei sich. Ich weiß noch, als ich Jahre später ein digitales Nachtsicht­gerät zum Beobachten anschaffte und plötzlich das nächtliche Treiben der Natur miterlebte: etwa einen Waldkauz, der sich lautlos eine Maus von der Kirrung holte. Das nächste Aha-­Erlebnis hatte ich vor ­wenigen Jahren, als ich das erste Wärme­bild-­Beob­achtungsgerät aus­probierte und auf einmal noch viel mehr sah. Um ehrlich zu sein, habe ich durch diese Geräte meinen jagdlichen Horizont sogar erweitern können, da ich Dinge gesehen habe, die mir sonst verwehrt geblieben wären.
Auch heute blitzt bei vielen Jägern erst einmal die Skepsis auf, wenn es um den Einsatz modernster Technik geht. „Mit Nachtsicht- und Wärmebildgeräten wird in der Nacht auch das Rotwild ­erlegt!“, hört man den kritischen ­Traditionalisten rufen. Es wird wohl Jäger geben, die das tun, genauso wie es solche gibt, die Wild in der Schonzeit oder jenseits der Reviergrenze ­erlegen. Fakt ist: Es ist jagdgesetzlich verboten, und dabei ist es völlig un­erheblich, in welchem Bundesland man sich befindet. Dies hat auch nur bedingt mit Ethik oder Weidgerechtigkeit zu tun, sondern zum größten Teil mit Gesetzestreue und Rechtschaffenheit.

Jagen mit Luftunterstützung?

Auch UAS („Unmanned Aircraft ­Systems“, sprich Drohnen) haben sich in den letzten Jahren im Jagdbereich einen Fixplatz erkämpft. Zu Recht, denn bei der Jungwildrettung haben sie, ausgestattet mit leistungsstarken Wärmebildkameras, gezeigt, wie wirkungsvoll sie eingesetzt werden können (siehe auch „Fliegen ohne Kopfweh“, WEIDWERK 5/2022). Mittlerweile finden sie aber auch in anderen Bereichen der Jagd Verwendung, etwa beim Wild­monitoring, bei der Wildschadenskontrolle, -vermessung und -dokumentation oder auch bei Maisjagden, um im Kukuruz steckende Sauen zu identifizieren oder Hundeführer und Hunde bei Mais­jagden aus der Luft zu koordinieren. Das mag auf den ersten Blick skurril und unweidmännisch erscheinen, dient aber bei etwas genauerer Betrachtung der Sicherheit von Mensch und Hund und letztlich auch der Effizienz der Jagd. Gerade, wenn es um die Verringerung von Wildschäden geht.

Weidgerechtigkeit

Den Begriff „Weidgerechtigkeit“ hört man im Laufe eines Jägerlebens sehr, sehr oft. Aber was bedeutet er? Im Kern könnte man ihn als moralische Instanz der Jäger, eine Art Ehrenkodex für ein anständiges, respektvolles und verantwortungsbewusstes Jagen beschreiben. Der Weidgerechtigkeit wohnt aber auch eine rechtliche Bedeutung inne, da sie in den Jagdgesetzen verankert ist. Etwa in § 2 Abs. 2 NÖ Jagdgesetz: „Die Jagd ist in einer allgemein als weidgerecht anerkannten Weise und unter Beobachtung der Grundsätze einer geordneten Jagdwirtschaft auszuüben. Sie kann auch in der Form der Beizjagd (Falknerei) und Hüttenjagd ausgeübt werden.“
Die Weidgerechtigkeit wird, inspiriert vom Philosophen Immanuel Kant, im Jahr 1972 von C. H. Silex auf den Punkt gebracht: „Jage so, als ob die Richtlinien deines Handelns ein ­all­gemeingültiges Gesetz der Jagd­ausübung werden sollen!“
Im Buch „Jägerehre und Waidmannspflicht“ aus dem Jahr 1911, das den Anfang allen Bemühens, die richtige Formel für die Jagdausübung zu finden, markiert, begann man, die Hege des Wildes höher einzuschätzen als deren Bejagung. Vernunft, Menschlichkeit, Selbstzucht und Gerechtig­keits­gefühl werden darin als unabdingbare Charakteristika des Weidmannes gefordert. Danach gemessen, unterscheidet man auch scharf zwischen Weidmann, Jäger, Schießer, Grenzschinder und Aasjäger; man verurteilt den Weitschuss [welcher damals sicherlich ein anderer war als heute], die ­Verwendung von Gift und Schlinge, von unge­eigneten Fallen und zweckfremder Munition; man fordert die Chance des Entrinnens für das Wild, die Existenzberechtigung auch des sogenannten „schädlichen“ Wildes u. v. m. Ein beträchtlicher Teil dessen, was heute in den Jagdgesetzen festgeschrieben ist, findet sich in diesem Buch. Geformt wurde der Begriff „Weidgerechtigkeit“ später durch allseits bekannte Namen, wie etwa Friedrich von Gagern.

Und heute?

So, wie man sich bereits vor vielen ­Jahren und Jahrzehnten Gedanken über die Weidgerechtigkeit gemacht hat, ist es noch heute, auch wenn die jagdlichen Praktiken andere sind. Niemand würde heute auf die Idee kommen, Jauche in einen Fuchsbau zu füllen, um Meister Reineke und seine Sippe zu ersäufen.
Und dennoch: Ist es weidgerecht, ein Wildschwein in der Nacht mit ­Wärmebildtechnik zu überlisten und im Anschluss zu erlegen? Von mir kommt ein klares „Ja!“, denn damit kann sowohl das zu erlegende Wildschwein einwandfrei angesprochen als auch der Kugelfang sicher eingeschätzt werden. Es ist zudem möglich, einen sauberen Schuss aufs Blatt abzugeben, ohne anderes Wild zu gefährden. ­Moderne Wärmebildgeräte bieten zudem die Möglichkeit, jagdliche Szenen per Knopfdruck aufzuzeichnen. Bei schlechten Schüssen ist dieses „Feature“ ­besonders hilfreich – im Video ist im besten Fall ein Schusszeichen bzw. eine Fluchtrichtung zu erkennen, und der Jäger kann ein herbeigerufenes Nachsuchengespann entsprechend instruieren.
Summa summarum obliegt es letzt­lich dem Jäger, wie er mit der ihm zur Verfügung stehenden Technik umgeht. Die persönliche Einstellung zur Weidgerechtigkeit kann also nicht zwingend von der technischen Ausrüstung des Jägers abgeleitet werden. Bei jenen Weidkameraden aber, die diese kategorisch als unweidmännisch abqualifizieren, drängt sich mir folgender Spruch auf: „Wie der Schelm denkt, so ist er“.

Literatur: Silex, C. H.: Weidgerechtigkeit – gestern und heute, Österreichs Weidwerk, Jg. 1972, Seite 169 ff.