Reportage

Jagd auf den Edlen Weyd-Mann

30. November 2020
Jagd auf den Edlen Weyd-Mann - Die Bibliothek des Stiftes Melk beherbergt etwa 100.000 Bücher! - © Martin Grasberger
Die Bibliothek des Stiftes Melk beherbergt etwa 100.000 Bücher! © Martin Grasberger

In der Bibliothek des Stiftes Melk wurde vor Kurzem ein „jagdlicher Knigge“ aus dem 18. Jahrhundert gefunden. Ein interessantes Büchlein, das Einblicke in die jagdlichen Umgangsformen vergangener Zeiten gewährt.

Wie spricht man seine Majestät den Kaiser an, ohne die Etikette zu verletzen? Wie formuliert man einen hieb- und stichfesten Kaufvertrag? Welche Worte sind beim standesgemäßen Liebeswerben schicklich? Wie peppt man Privatkorrespondenz durch fremdsprachige Redewendungen oder lateinische Zitate auf, um wirkungs­-voll Weltgewandtheit und Bildung zu demonstrieren? Und schließlich: Welche Begriffe muss man im Gespräch mit einem Weidmann kennen, um sich nicht als jagdlicher Banause zu outen?

Schreibkunst

Auf den ersten Blick könnte man es als Knigge für den gehobenen, sprachlichen Umgang bezeichnen, jenes Buch, das unter der Signatur P 1.049 in der ­Melker Stiftsbibliothek aufbewahrt wird. Möglichen Unsicherheiten im korrekten Formulieren wird hier durch zahllose Fallbeispiele entgegengetreten, praktisch für jede Form der schrift­lichen Social Interaction des bürgerlichen oder ­adeligen Lebens im Barock findet sich ein Vorschlag für eine formell adäquate, kultivierte Ausdrucksweise, die auch juristisch standhält.

Von außen betrachtet ist es ein recht schlichtes Büchlein, gedruckt in Nürnberg 1710, keine 14 cm hoch, mit Pappeinband, der durch ein mittelalterliches Handschriftenfragment verstärkt wurde. Schlägt man es auf, sieht man sich einem ganzseitigen, umständlich formulierten, barock verschachtelten Titel gegenüber, der stark gekürzt „Der Stets-bereite und vielvermehrte Secretarius“ lautet. Auf 453 Seiten ­findet man eine ganze Anzahl an bunt zusammengewürfelten Texten, allesamt dazu da, anlassbezogene Fragen zu Stil und Sprachgebrauch beispielhaft zu beantworten. Das Werk ist damit den sogenannten „Formularbüchern“ zuzurechnen (standardisierte Textvorlagen, die je nach Bedarf individuell abgeändert werden) oder auch den Briefstellern (Anleitungen zum formell korrekten Briefeschreiben). Auf jeden Fall ist es keineswegs nur pures Jagdglück, wenn man mitten im Buch auf das schmale, nur wenige Seiten umfassende Glossar „Der Edle Weyd-­Mann“ stößt – ein Überblick über die wichtigsten Fachtermini rund um die Jagd. Im Gegenteil, in einer Handreichung zur angemessenen Wortwahl in allen Lebenslagen darf eine Abhandlung über die Jägersprache keinesfalls fehlen.

Jagd & Kloster

Für das Stift Melk waren solche ­Formularbücher in erster Linie zum Aufsetzen von Rechtstexten und offizieller Korrespondenz in der Kanzlei von alltagsrelevanter Bedeutung, im konkreten Fall des Textes vom „Edlen Weyd-Mann“ vielleicht aber auch, weil die Jagd seit jeher ein wichtiger Bestandteil der klösterlichen Ökonomie und Wirtschaftspolitik war. Schon ein Jagderlass Kaiser Maximilians II. aus dem Jahr 1575 legte fest, dass das Kloster verpflichtet war, für die Jagd auf Luchse, Wölfe, Bären und Füchse Schweiß- und Bluthunde zu halten, die von einem kaiserlich bezahlten Rüdenknecht versorgt wurden.

Eine Handschrift des 17. Jahr­hunderts berichtet von den unter­schied­lichen Arten an Wildpret, das von den Stiftsjägern an den Küchenmeister zu liefern war. Alte Inventare im Stifts­archiv listen die Jäger im Dienst des Klosters auf und auch die Waffen, die Mitte des 18. Jahrhunderts in zwei Schränken im „Confectzimmer“ der Küchen­meisterei aufbewahrt wurden. Auf höchst humorvolle Weise erzählt ein Gedicht aus der Feder des P. Eduard von Siber (1814–1875) davon, wie sich Mitte des 19. Jahrhunderts eine klösterliche Jagdgesellschaft zum gemeinsamen Ausritt versammelt. Vom Prälaten und seinen Mönchen, von einem Mitglied des Reichstags, von Jagdgästen aus Wien, dem Stiftsarzt, dem Postmeister, den Kanzleischreibern oder dem Brau­meister ist da die Rede. Fotografien des Jahres 1891 dokumentieren ein unkapriziöses Miteinander der hohen Geistlichkeit mit ihren weidmännischen Untergebenen im Forst, wenn man in lockerer Runde gemeinsam ein Gläschen auf die Fasanen­jagd erhebt. Keine Frage, die Jagd spielte nicht nur versorgungs­technisch, sondern auch gesellschaftlich jahrhundertelang eine wichtige Rolle im Stift Melk. Das spiegelt sich nicht zuletzt auch auf vielfältige Weise im Buchbestand der Bibliothek wider.

Der „Edle Weyd-Mann“

Der „Edle Weyd-Mann“, der Laien ebenso wie weidmännische Profis auf ein verbindliches Fachvokabular für Jäger einschwört, findet sich nicht nur im bereits erwähnten Buch, sondern auch in weiteren, ganz ähnlich konzipierten Sammelbänden der Zeit, erschien dort jeweils in mehreren Auf­lagen und war damit vom späten 17. Jahrhundert bis tief hinein ins 18. Jahrhundert primär im sprach- und rechtswissenschaftlichen Kontext verortet.

Aber auch in rein juristischen ­Werken wie etwa dem „Manuale Juridico-­Politicum“ von 1687 wurde er abgedruckt. Scheinbar kurios, tatsächlich aber sinnig und durchdacht ist das Konzept eines Tranchier-Buchs in Kombination mit Beispieltexten schriftlicher und mündlicher Konversation, als dessen Anhang der „Edel Weyd-­Mann“ etwa um 1700 überraschend auftaucht. Das Tranchieren, also das fachmännische, kunstreiche Zerlegen und ästhetische Vorlegen von Fleisch, Gemüse und Obst bei Tisch, wurde ab dem 17. Jahrhundert in Adelskreisen zum wahren Modetrend. Es war ohne Zweifel von Vorteil, mit weidmännischen Grundbegriffen vertraut zu sein, wenn man ein Stück Wild vor sich liegen hatte, das zerlegt werden sollte – auch wenn das Jagdglossar inhaltlich fraglos eher in der Nähe der Sammlung an Formulartexten in diesem Buch zu sehen ist.

Ende des 17. Jahrhunderts fand der „Edle Weyd-Mann“ in die sogenannte „Hausväterliteratur“ Eingang, zu­meist mehrbändige Ratgeber, die unter ­anderem hauswirtschaftliche, forst- und landwirtschaftswissenschaftliche Texte enthielten. Man konnte sich hier ­da­rüber informieren, wie Hof- und ­Stallungsgebäude, ein Dörrhaus oder eine Mühle zu errichten waren, wie man ­Felder bestellte und Wiesen ­einfriedete, Tierkrankheiten behandelte, Bier braute, Vorräte anlegte etc. Dazu kam ein umfang­reicher Teil über alltags­praktische und rechtliche Grund­lagen etwa zu Pacht und Verkauf, zum Aufsetzen eines Vertrags oder Testaments und zu Rechten und Pflichten im Forst und bei der Jagd. In diesem Kontext wurde der „Edle Weyd-Mann“ in die ersten Auflagen des 1685 ­erschienenen Werks „J. J. Bechers kluger Haus-Vater“ als Anhang aufgenommen sowie in das ­„Geheime Jägerkabinett“ (1721, 1778). Abschnitte hieraus finden sich auch wortwörtlich in Gottfried von Meyers „Haus-Vatter“ 1730.

Ab dem späten 18. Jahrhundert scheint das Jagd-Glossar schließlich aus den Publikationen zu verschwinden. Erst im 19. Jahrhundert tauchen zunehmend wieder Hinweise auf, nunmehr in einschlägiger Jagdliteratur: in einer Geschichte der Jagdtiere, in einer Zeitschrift für Forst- und Jagdwesen oder in Unterrichtsbüchern wie dem „Jagdkatechismus“ oder der „Jägerschule“. Der Fokus liegt allerdings jetzt – und liegt bis heute – dezidiert auf dem ­historischen Interesse am Text. Dieser Wandel ist unter anderem durch die Veränderungen der Jagdtechnik zu erklären, die seit dem 18. Jahrhundert zunehmend durch die Verwendung von Feuerwaffen und deren stete Verbesserungen und Verfeinerung geprägt wurde. Alte Jagdmethoden wurden nach und nach durch modernere abgelöst oder traten in den Hintergrund – und mit ihnen auch das entsprechende Fachvokabular. Damit war aber auch die Funktion des „Edlen Weyd-Manns“ als fachspezifischer Gebrauchstext durch seine Bedeutung als jagdhistorisches Zeitdokument endgültig ersetzt.

Spurensuche

An diesem Schlusspunkt angekommen, stellt sich natürlich unweigerlich die Frage nach den Anfängen. Von wem stammt denn eigentlich dieses Glossar, das 1710 in dem kleinen Büchlein der Stiftsbibliothek auftaucht und so viele weitere überraschende Treffer in diversen Druckwerken landen konnte? Wann und wo erschien es zum ersten Mal und in welchem Kontext?

Es würde hier zu weit führen, eine solide, umfassende quellenkundliche Forschungsarbeit durchzuführen, die zu den Ursprüngen des Textes zurückführt. Die größte Schwierigkeit dabei ist, dass es vom 15. bis zum 18. Jahrhundert gang und gäbe war, Text­vorlagen bedenkenlos immer wieder neu in anderen Werken abzudrucken, sei es im Original oder mit mehr oder weniger geringfügigen sprachlichen Ver­änderungen (im Ausdruck oder in der Schreibweise), sei es durch ­Streichungen, Kürzungen, Ergänzungen, Überformungen oder durch eine tief in die Textstruktur eingreifende Neugliederung verändert, üblicherweise jedenfalls ohne Quelle oder Verfasser zu nennen. Auch der „Edle Weyd-­Mann“ wurde in den vorgestellten Werken ­jeweils anonym und ohne biblio­graphische Hinweise überliefert.

Ausnahmen bestätigen wie immer die Regel: Eine davon ist das „Deutsche aerarium poeticum“ (1675). Als Quelle der dort edierten Versatzstücke wird Vitus Bremer mit seinem Werk „Fürstliche Jäger Burg“ aus dem Jahr 1657 genannt, und bereits 1653 gab die rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Basel einen Sammelband mit juristischen Abhandlungen heraus und zitiert den „Edlen Weyd-Mann“ u. a. nach einem gewissen Noe Meurer (geb. um 1525, gest. 1583). Hier wird es ­wieder spannend, denn mit ihm tritt ein Autor und Rechtsgelehrter auf den Plan, der „Wald“ und „Jagd“ erstmals nicht nur als Teilaspekte der Land­wirtschaft betrachtete, sondern gezielt eigenständige juristische Schriften dazu verfasste – und das nicht nur auf ­Latein, wie zu der Zeit üblich, sondern auch auf Deutsch, was sie einem breiten Lese­publikum zugänglich machten. Mit Meurers „Jagd- und Forstrecht“ kann der „Edle Weyd-Mann“ schon in einem Druck des 16. Jahrhunderts nach­gewiesen werden (1561, 1576), und zwar unter dem Titel: „Wie Weydmennisch von allem Weydwerck zureden“.

Noe Meurer hat den Text allerdings abermals lediglich von jemand anderem übernommen. Vor ihm verwendete ihn bereits Johann Helias Meichßner, und zwar wiederum in einem Formularbuch mit Musterbeispielen für Geschäfts-, Privat- und Rechtskorrespondenzen, erstmals erschienen 1538. Meichßner gibt an, er habe die Texte für sein „Handbuechlin“ selbst zusammen­getragen (damit aber nicht unbedingt selbst verfasst), die nun erstmals gedruckt erscheinen würden.

Keine Frage, mit diesem Formularbuch ist man schon sehr nahe dran an der Urfassung des „Edlen Weyd-­Manns“ und an seiner primären Bestimmung, derentwegen er mehr als 300 Jahre lang immer wieder abgedruckt wurde: Jagdliche Begriffe richtig nennen und ­verwenden zu ­können, war sowohl in Rechtstexten als auch in gebildeter schriftlicher Konversation und im ­täglichen Umgang mit der Materie in einem jagdlich geprägten Lebens­umfeld relevant. Genau dafür scheint das Glossar ursprünglich zusammengestellt worden zu sein: ­„Etliche zierliche un(d) artliche wörter / deren man sich uff und zu de(m) weidwerck gebrucht / eine(m) schryber by Fürsten un(d) Herrn dienende hoflich un(d) nutzlich zuwissen“, so drückt es ­Meichßner aus.

Jagd auf Unbekannt

Man könnte dem „Edlen Weyd-Mann“ in der Fachliteratur noch lange weiter nachjagen und würde bestimmt auch fündig werden. Ob es allerdings ge­lingen würde, je auf den eigentlichen Urheber des Glossars zu kommen, darf bezweifelt werden. Die Ursprünge derartiger Fachprosa liegen nicht selten in mittelalterlichen Handschriften, die inhaltlich wiederum voneinander abhängen, sich aus älteren handschriftlichen Fassungen speisen oder schlicht und einfach ihre Quelle in der mündlichen Überlieferung haben, die irgendwann einmal in eine schriftliche Aufzeichnung mündeten, ohne tatsächlich an einer bestimmten Person, einer Jahres­zahl oder einem Ort ursächlich festgemacht werden zu können.

Durch die Jahrhunderte

Was lässt sich also abschließend über die Jagd auf den „Edlen Weyd-Mann“ sagen? Wofür der ganze Aufwand, ihn quer durch die Jahrhunderte zu verfolgen?

In erster Linie ist es natürlich der Text selbst, der Lust macht, sich mit Überlegungen zum historischen Weidwerk zu befassen. Es ist faszinierend, sich einen Jagdtross vorzustellen, der sich mit Hunden und Wägen voll ­Zubehör aufmacht, um mit Tüchern, Stoffbahnen, Seilen und Netzen ganze Waldgebiete einzuzirkeln, in der Absicht, möglichst wenig Wild „durch die Lappen gehen“ gehen zu lassen.

Wenn von Jagd die Rede ist und davon, wie Habicht und Falke „reißen“ und „rauben“, wie Hunde „hetzen“, „stellen“ und „erbeissen“, wie Wild mit Seilen und Garn zu Fall gebracht wird, um ihm dann „den Fang zu geben“, es zu „knicken“ oder zu „stechen“ – dabei aber keine einzige Schusswaffe erwähnt wird, stellt sich sofort die Frage nach dem Wandel der Waffen- und Jagd­technik im Lauf der Geschichte. ­Weidmänner und -frauen des 21. Jahrhunderts werden einmal mehr fest­stellen, dass trotz aller essenziellen Veränderungen auf dem Gebiet der Jagd immer noch viele derselben ­Fachbegriffe in Verwendung sind wie schon vor Jahrhunderten. Inwieweit beeinflussten einander die deutsche Umgangssprache und die jagdliche Fachsprache? Wo liegen die Wurzeln weidmännischer Begriffe, und woher kommen bis heute gebräuchliche ­Redewendungen, die längst vergangene Praktiken der Jagd beschreiben?

Die Bedeutung und den Stellenwert der Jäger­sprache als Sonder-, ­Berufs-, Fach- oder Zunftsprache für die einschlägige Fachliteratur sowie ihre Signifikanz als fundierte, präzise Ausdrucksform in Korrespondenzen und Rechtstexten einerseits und als identitätsstiftendes „Markenzeichen“ der ­Jägerschaft als selbstbewussten und wirkmächtigen Berufsstand und seiner Kulturformen andererseits kann jedenfalls an der jahrhundertelangen breiten Streuung des „Edlen Weyd-­Manns“ in Druck­werken unterschiedlichen ­Inhalts ermessen werden. Die Tatsache wiederum, dass sich diese Werke vornehmlich an Personen und Institutionen höherer sozialer Bildungsschichten wandten, zeigt, dass das ­historische Jagdwesen von immanenter gesellschaftlicher ­Relevanz war.

Luchs, Wolf & Bär

Es gibt aber auch ganz aktuelle Themen, die im historischen Glossar anklingen und mit denen sich Jäger der 2020er-Jahre nun wieder befassen müssen. Im „Edlen Weyd-Mann“ werden Luchs, Wolf und Bär erwähnt, die in vielen ­Regionen Österreichs lange Zeit als ausgerottet galten. Jetzt kehren sie nach und nach zurück, was sie nicht zuletzt für die Jägerschaft wieder zum Thema macht. Welchen jagdbaren Tieren begegneten Jäger vor Jahrhunderten in heimischen Wäldern? Wie funktionierte Jagd in der Praxis, wie war sie rechtlich organisiert, welche Rahmenbedingungen gab es? Wie hat man sich das Jagdhandwerk faktisch vorzustellen, wenn es am Schluss des Textes heißt, der Jäger sei „ein(e) Besti(e)“?

Es ist nicht das schlechteste Er­gebnis, wenn dieser kleine Birschgang durch die Überlieferungs­geschichte rund um einen fast in ­Vergessenheit ge­ratenen Jagdtext und ein paar uralte Vokabel aus der Jägersprache Fantasie, Neugier und Forschergeist heutiger Leser anregen. Dass das kleine Glossar noch rund 500 Jahre später auf Interesse stößt und die Wissen­schaft auf den Plan ruft, hätte sich Helias Meichßner beim Zusammentragen der Texte für sein Buch jedenfalls sicher nicht ­träumen lassen.

Literatur: Der Originaltext des „Edlen Weyd-Manns“ sowie eine komplette Literaturliste können in der Redaktion WEIDWERK, Tel. 01/405 16 36-30, E-Mail: redaktion@weidwerk.at oder direkt beim Stift Melk, Abt-­Berthold-Dietmayr-Straße 1, 3390 Melk, Tel. 0 27 52/­555-0, angefordert werden. In Vorbereitung ist eine Publikation inklusive einem hochwertigen Faksimileabdruck des Originaltextes mit Transkription, zu beziehen über das Stift Melk unter oben genannter Anschrift.

Spurensuche

An diesem Schlusspunkt angekommen, stellt sich natürlich unweigerlich die Frage nach den Anfängen. Von wem stammt denn eigentlich dieses Glossar, das 1710 in dem kleinen Büchlein der Stiftsbibliothek auftaucht und so viele weitere überraschende Treffer in diversen Druckwerken landen konnte? Wann und wo erschien es zum ersten Mal und in welchem Kontext?

Es würde hier zu weit führen, eine solide, umfassende quellenkundliche Forschungsarbeit durchzuführen, die zu den Ursprüngen des Textes zurückführt. Die größte Schwierigkeit dabei ist, dass es vom 15. bis zum 18. Jahrhundert gang und gäbe war, Text­vorlagen bedenkenlos immer wieder neu in anderen Werken abzudrucken, sei es im Original oder mit mehr oder weniger geringfügigen sprachlichen Ver­änderungen (im Ausdruck oder in der Schreibweise), sei es durch ­Streichungen, Kürzungen, Ergänzungen, Überformungen oder durch eine tief in die Textstruktur eingreifende Neugliederung verändert, üblicherweise jedenfalls ohne Quelle oder Verfasser zu nennen. Auch der „Edle Weyd-­Mann“ wurde in den vorgestellten Werken ­jeweils anonym und ohne biblio­graphische Hinweise überliefert.

Ausnahmen bestätigen wie immer die Regel: Eine davon ist das „Deutsche aerarium poeticum“ (1675). Als Quelle der dort edierten Versatzstücke wird Vitus Bremer mit seinem Werk „Fürstliche Jäger Burg“ aus dem Jahr 1657 genannt, und bereits 1653 gab die rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Basel einen Sammelband mit juristischen Abhandlungen heraus und zitiert den „Edlen Weyd-Mann“ u. a. nach einem gewissen Noe Meurer (geb. um 1525, gest. 1583). Hier wird es ­wieder spannend, denn mit ihm tritt ein Autor und Rechtsgelehrter auf den Plan, der „Wald“ und „Jagd“ erstmals nicht nur als Teilaspekte der Land­wirtschaft betrachtete, sondern gezielt eigenständige juristische Schriften dazu verfasste – und das nicht nur auf ­Latein, wie zu der Zeit üblich, sondern auch auf Deutsch, was sie einem breiten Lese­publikum zugänglich machten. Mit Meurers „Jagd- und Forstrecht“ kann der „Edle Weyd-Mann“ schon in einem Druck des 16. Jahrhunderts nach­gewiesen werden (1561, 1576), und zwar unter dem Titel: „Wie Weydmennisch von allem Weydwerck zureden“.

Noe Meurer hat den Text allerdings abermals lediglich von jemand anderem übernommen. Vor ihm verwendete ihn bereits Johann Helias Meichßner, und zwar wiederum in einem Formularbuch mit Musterbeispielen für Geschäfts-, Privat- und Rechtskorrespondenzen, erstmals erschienen 1538. Meichßner gibt an, er habe die Texte für sein „Handbuechlin“ selbst zusammen­getragen (damit aber nicht unbedingt selbst verfasst), die nun erstmals gedruckt erscheinen würden.

Keine Frage, mit diesem Formularbuch ist man schon sehr nahe dran an der Urfassung des „Edlen Weyd-­Manns“ und an seiner primären Bestimmung, derentwegen er mehr als 300 Jahre lang immer wieder abgedruckt wurde: Jagdliche Begriffe richtig nennen und ­verwenden zu ­können, war sowohl in Rechtstexten als auch in gebildeter schriftlicher Konversation und im ­täglichen Umgang mit der Materie in einem jagdlich geprägten Lebens­umfeld relevant. Genau dafür scheint das Glossar ursprünglich zusammengestellt worden zu sein: ­„Etliche zierliche un(d) artliche wörter / deren man sich uff und zu de(m) weidwerck gebrucht / eine(m) schryber by Fürsten un(d) Herrn dienende hoflich un(d) nutzlich zuwissen“, so drückt es ­Meichßner aus.

Jagd auf Unbekannt

Man könnte dem „Edlen Weyd-Mann“ in der Fachliteratur noch lange weiter nachjagen und würde bestimmt auch fündig werden. Ob es allerdings ge­lingen würde, je auf den eigentlichen Urheber des Glossars zu kommen, darf bezweifelt werden. Die Ursprünge derartiger Fachprosa liegen nicht selten in mittelalterlichen Handschriften, die inhaltlich wiederum voneinander abhängen, sich aus älteren handschriftlichen Fassungen speisen oder schlicht und einfach ihre Quelle in der mündlichen Überlieferung haben, die irgendwann einmal in eine schriftliche Aufzeichnung mündeten, ohne tatsächlich an einer bestimmten Person, einer Jahres­zahl oder einem Ort ursächlich festgemacht werden zu können.

Jagd auf den Edlen Weyd-Mann - © Martin Grasberger
© Martin Grasberger

Einblick in den Inhalt des Buches: „Wie man von dem Hirsch Weyd­­­männisch reden soll“
1. Wird er bestättiget. 2. Die Hund werden ankuppelt / aufs Gejayd geführt. 3. Wann die Garn gericht / macht man Schirm. 4. Zeucht der Jäger gen Holtz. 5. Wann ihm etwas wiederfährt / so hetzet er auf die Fahrt. 6. Die Hund jagen wol / sind wol ­lautend. 7. Das Gewild oder Hirsch versacht. 8. Wird gejagt. 9. Ist den Hunden entlauffen. 10. Uber den Zeuch ausgesprungen. 11. Ist in die Garn gesprungen oder gefallen. 12. Wird erlegt. 13. Wird gestochen oder ein Fang ­gegeben. 14. Wird gebürscht. 15. Wird ­zerwürckt. 16. Schweist oder gibt Fährten oder Gemerck. 17. Die Hunde werden mit ­seinem Schweiß gepfneuscht / oder gepast. 18. Das Zimer oder Zemer ist das Hinter­-theil auf dem Rucken. 19. Die Bugg heissen Knöpff oder Läuff 20. Die Seiten von dem Hirsch heissen Krieben oder Wänd. 21. Der Hirsch hat Lauff-Klauen / und nicht Füß. 22. Das Gewild setzt. 23. Die ­Jungen heist man Hinden-Kälber oder ­Wildkalb. 24. Die jungen Hirsch / Spießhirsch. 25. Das Wildpret wird geprist / und das heist man ein Sülz.

Jagd auf den Edlen Weyd-Mann - © Martin Grasberger
© Martin Grasberger

Jagdlicher Knigge.
In dem Büchlein „Der Stets-bereite und vielvermehrte ­Secretarius“ aus dem 18. Jahrhundert findet sich auch der „Edle Weyd-­Mann“ mit einer Fülle jagd­licher Fachausdrücke.

Durch die Jahrhunderte

Was lässt sich also abschließend über die Jagd auf den „Edlen Weyd-Mann“ sagen? Wofür der ganze Aufwand, ihn quer durch die Jahrhunderte zu verfolgen?

In erster Linie ist es natürlich der Text selbst, der Lust macht, sich mit Überlegungen zum historischen Weidwerk zu befassen. Es ist faszinierend, sich einen Jagdtross vorzustellen, der sich mit Hunden und Wägen voll ­Zubehör aufmacht, um mit Tüchern, Stoffbahnen, Seilen und Netzen ganze Waldgebiete einzuzirkeln, in der Absicht, möglichst wenig Wild „durch die Lappen gehen“ gehen zu lassen.

Wenn von Jagd die Rede ist und davon, wie Habicht und Falke „reißen“ und „rauben“, wie Hunde „hetzen“, „stellen“ und „erbeissen“, wie Wild mit Seilen und Garn zu Fall gebracht wird, um ihm dann „den Fang zu geben“, es zu „knicken“ oder zu „stechen“ – dabei aber keine einzige Schusswaffe erwähnt wird, stellt sich sofort die Frage nach dem Wandel der Waffen- und Jagd­technik im Lauf der Geschichte. ­Weidmänner und -frauen des 21. Jahrhunderts werden einmal mehr fest­stellen, dass trotz aller essenziellen Veränderungen auf dem Gebiet der Jagd immer noch viele derselben ­Fachbegriffe in Verwendung sind wie schon vor Jahrhunderten. Inwieweit beeinflussten einander die deutsche Umgangssprache und die jagdliche Fachsprache? Wo liegen die Wurzeln weidmännischer Begriffe, und woher kommen bis heute gebräuchliche ­Redewendungen, die längst vergangene Praktiken der Jagd beschreiben?

Die Bedeutung und den Stellenwert der Jäger­sprache als Sonder-, ­Berufs-, Fach- oder Zunftsprache für die einschlägige Fachliteratur sowie ihre Signifikanz als fundierte, präzise Ausdrucksform in Korrespondenzen und Rechtstexten einerseits und als identitätsstiftendes „Markenzeichen“ der ­Jägerschaft als selbstbewussten und wirkmächtigen Berufsstand und seiner Kulturformen andererseits kann jedenfalls an der jahrhundertelangen breiten Streuung des „Edlen Weyd-­Manns“ in Druck­werken unterschiedlichen ­Inhalts ermessen werden. Die Tatsache wiederum, dass sich diese Werke vornehmlich an Personen und Institutionen höherer sozialer Bildungsschichten wandten, zeigt, dass das ­historische Jagdwesen von immanenter gesellschaftlicher ­Relevanz war.

Luchs, Wolf & Bär

Es gibt aber auch ganz aktuelle Themen, die im historischen Glossar anklingen und mit denen sich Jäger der 2020er-Jahre nun wieder befassen müssen. Im „Edlen Weyd-Mann“ werden Luchs, Wolf und Bär erwähnt, die in vielen ­Regionen Österreichs lange Zeit als ausgerottet galten. Jetzt kehren sie nach und nach zurück, was sie nicht zuletzt für die Jägerschaft wieder zum Thema macht. Welchen jagdbaren Tieren begegneten Jäger vor Jahrhunderten in heimischen Wäldern? Wie funktionierte Jagd in der Praxis, wie war sie rechtlich organisiert, welche Rahmenbedingungen gab es? Wie hat man sich das Jagdhandwerk faktisch vorzustellen, wenn es am Schluss des Textes heißt, der Jäger sei „ein(e) Besti(e)“?

Es ist nicht das schlechteste Er­gebnis, wenn dieser kleine Birschgang durch die Überlieferungs­geschichte rund um einen fast in ­Vergessenheit ge­ratenen Jagdtext und ein paar uralte Vokabel aus der Jägersprache Fantasie, Neugier und Forschergeist heutiger Leser anregen. Dass das kleine Glossar noch rund 500 Jahre später auf Interesse stößt und die Wissen­schaft auf den Plan ruft, hätte sich Helias Meichßner beim Zusammentragen der Texte für sein Buch jedenfalls sicher nicht ­träumen lassen.

Literatur: Der Originaltext des „Edlen Weyd-Manns“ sowie eine komplette Literaturliste können in der Redaktion WEIDWERK, Tel. 01/405 16 36-30, E-Mail: redaktion@weidwerk.at oder direkt beim Stift Melk, Abt-­Berthold-Dietmayr-Straße 1, 3390 Melk, Tel. 0 27 52/­555-0, angefordert werden. In Vorbereitung ist eine Publikation inklusive einem hochwertigen Faksimileabdruck des Originaltextes mit Transkription, zu beziehen über das Stift Melk unter oben genannter Anschrift.

30. November 2020